Warum der rasche Rückgang der Corona-Inzidenz bald ausgebremst wird
Die Corona-Prognose für den Sommer klingt gut - Doch das rasante Abflauen wird wohl bald ein Ende haben
(dpa) Mancher konnte es in den vergangenen Wochen gar nicht fassen, wie schnell die Corona-Inzidenz purzelte. Da waren wichtige Grenzwerte für Lockerungen so schnell unterschritten, dass hier und da zwei Öffnungsschritte auf einmal genommen werden konnten.
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Dass das so ist, hat mit der Corona-Notbremse und weniger Kontakten zu tun. Und mit dem Impfen, weshalb weniger Menschen infiziert werden. Und mit höheren Temperaturen, die es den Viren schwerer machen. Und mit frischer Luft, an der man im Sommer häufiger ist und in der Sars-CoV-2 schlechter übertragen wird. Und mit Mathematik.
Hier kommt es auf die sogenannte Reproduktionszahl an. Die gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Liegt dieser R-Wert unter 1, nimmt die Entwicklung im Modell exponentiell ab. Je niedriger der Faktor - also je weiter weg von 1 -, desto schneller der Rückgang, wie André Scherag vom Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften des Universitätsklinikums Jena erklärt.
Mit exponentiellen Veränderungen hatten wir schon mehrfach zu tun in den vergangenen anderthalb Jahren: Immer dann, wenn die Zahlen rasant in die Höhe schnellten. Sobald der R-Wert über 1 liegt, ist das Wachstum nach dem einfachen Modell exponentiell. Hier gilt umgekehrt: Je höher der Wert ist, desto rascher breitet sich das Virus aus.
Ein niedriger R-Wert über 1 würde also ein langsameres exponentielles Wachstum bedeuten. Statistik-Professor Helmut Küchenhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität München vergleicht die Pandemie mit der Zins-Entwicklung: «Ist der Zinssatz nicht so hoch, dauert es lange, bis sich das Geld vermehrt. Ist er höher, wird man schneller reich.» Zudem komme es darauf an, wie viel Geld überhaupt vorhanden ist. «So ist es auch bei Infektionen: Wenn viele schon krank sind, können die auch mehr anstecken», sagt Küchenhoff. «Exponentielles Wachstum ist nicht gleich starkes Wachstum», stellt er klar.
Gerade sind wir also gewissermaßen im Gegentrend: Zuletzt waren die Inzidenzwerte vielerorts im Sinkflug. Doch wer sich Musterkurven für den Verlauf eines exponentiellen Abflauens anschaut, sieht auch, dass die Linien sich mit Verlauf der Zeit strecken.
Der Rückgang der Corona-Zahlen werde sich notgedrungen verlangsamen, selbst wenn es noch eine Weile bei exponentiell fallenden Zahlen bleibt, erklärt Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich. «Ähnlich wie ein exponentieller Anstieg anfangs sehr langsam erscheint und sich dann immer weiter beschleunigt, beginnt ein exponentieller Abfall rasant und wird immer langsamer.» Ein Beispiel: Bei konstantem R unter 1 gehe der Rückgang von einer 200er-Inzidenz auf 100 ähnlich schnell - oder langsam, je nach Sichtweise - wie von 40 auf 20.
Und die Bedingung, dass der R-Wert sich nicht ändert, macht schon deutlich: Das gilt in der Theorie. Aussagen über exponentielles Wachstum seien vor allem im Modell leicht zu machen, sagt Scherag. Allerdings sei die Realität komplexer. So würden aktuell verschiedene Maßnahmen gelockert, Impfungen und durchgemachte Infektionen hätten Auswirkungen, und verschiedene Coronavirus-Varianten seien unterschiedlich ansteckend. Die Effekte überlagerten sich, und das einfache Modell greife nicht mehr. «Zwar kann man dann einen R-Wert auf Basis der existierenden Daten berechnen», sagt der Professor. «Eine einfache Interpretation ist in der Regel nicht mehr möglich.»
Auch Küchenhoff betont, Modellrechnungen seien mit großen Unsicherheiten verbunden, die beim Erstellen mehr oder weniger gut berücksichtigt werden können. Er spricht von «stochastisch exponentiellem Wachstum», das also in Teilen vom Zufall abhängt.
Zudem kämen manche Einflüsse von außen, betont der Statistiker - etwa die zuerst in Indien entdeckte Delta-Variante des Coronavirus. Würden beispielsweise jeden Tag zehn damit infizierte Menschen mit dem Flugzeug nach Deutschland reisen, wäre der Anstieg linear.
Verwirrend? «Das Problem ist, dass wir Menschen uns exponentielle Entwicklungen nur schwer vorstellen können», sagt Scherag. «Menschen neigen dazu, in linearen Zusammenhängen zu denken.» Erschwerend hinzu komme, dass lineares und exponentielles Wachstum am Anfang oft kaum unterscheidbar sind. «Und wenn Sie merken, dass Sie im exponentiellen Wachstum stecken, ist es meist schon zu spät, um gegenzusteuern.»
Für den Sommer rechnet Fuhrmann ähnlich wie im letzten Jahr mit einem mäßigen Infektionsgeschehen. Zwar seien die vorherrschenden Virusvarianten ansteckender, ein zunehmender Anteil potenziell infizierbarer Personen sei aber durch Impfung geschützt.
Dass der Abwärtstrend sich aber beschleunigt, glaubt er nicht. «Zumal mit sinkender Inzidenz immer Öffnungsschritte einhergehen, die wiederum zusätzliche Kontakte und damit mögliche Übertragungswege zur Folge haben», erläutert er. «Da mit einer vollständigen Ausrottung des Virus in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, wird aber auch der exponentielle Trend selbst im günstigsten Fall früher oder später abbrechen, und die Inzidenz wird um ein niedriges Niveau schwanken.»
Das Beispiel Großbritannien zeige zudem, dass eine Kombination aus weitreichenden Öffnungsschritten und erneuten Mutationen trotz hoher Durchimpfung und saisonal bedingtem Abflauen des Infektionsgeschehens zu erneut steigenden Fallzahlen führen kann.
Schon eine Stellschraube kann entscheidend sein, wie er - im Modell - verdeutlicht: Seit einigen Wochen liegt der R-Wert in Deutschland bei grob 0,8. Ersetzte man in dieser Situation nur die aktuell dominierende Virusvariante B.1.1.7 durch eine im Schnitt 30 Prozent leichter übertragbare, so stiege R laut Fuhrmann auf knapp über 1 - und man käme bald aus einem zügigen Abwärtstrend zu einem schleichenden, sich beschleunigenden Anstieg der Inzidenz. «Und dabei wäre angenommen, dass alle anderen Rahmenbedingungen völlig unverändert blieben.»