Der biologischen dunklen Materie auf der Spur

16.07.2013 - Deutschland

Nicht nur im Weltall gibt es dunkle Materie. Wenn es um Mikroben geht, benutzen auch Biologen den Begriff. Obwohl die Winzlinge 70 Prozent aller auf Erden vorhandenen Lebewesen stellen, sind sie – wie die geheimnisvolle Masse im Kosmos - kaum erforscht. Denn die meisten dieser Organismen lassen sich im Labor nicht nachzüchten. Mit einem Trick ist es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bielefeld und dem kalifornischen Joint Genome Institut (JGI) sowie weiteren Instituten aus den USA, Kanada, Australien und Griechenland dennoch gelungen, ihnen auf die Spur zu kommen: Statt sie zu züchten, haben sie die DNA einzelner mikrobieller Zellen vervielfältigt – und damit Licht in die dunkle Materie gebracht.

Mikroben sind winzige Lebewesen, meist Einzeller, und sie sind überall: in der Luft, im Wasser, selbst der Mensch besteht nur zu einem Zehntel aus menschlichen Zellen – der Rest sind unterschiedlichste mikrobiologische Mitbewohner. Umso erstaunlicher, dass erst ein winziger Bruchteil von ihnen erforscht ist. Das liegt daran, dass sich die meisten von ihnen unter Laborbedingungen nicht „wohlfühlen“ und absterben statt sich zu vermehren. Das internationale Forschungsteam ist deswegen einen anderen Weg gegangen, um mehr über die mikrobielle dunkle Materie zu erfahren: Zunächst haben sie Proben aus neun besonders „lebensfeindlichen“ Habitaten aus aller Welt genommen – von einem besonders sauerstoffarmen See in Griechenland über einen mexikanischen Klärschlammreaktor bis zur fast kochendheißen Quelle in der Wüste von Nevada. Dank dieser Auswahl hatten die Forscher eine hohe Wahrscheinlichkeit, möglichst viele unbekannte Mikroben einzufangen – und nicht etwa bereits bekannte erneut zu erfassen.

Erst reduzieren – dann vermillionenfachen

Aus den Proben der neun Habitate haben die Forscher in Kalifornien rund 9.000 Einzelzellen gewonnen. Bei etwa 3.300 von ihnen haben sie die Zellwand aufbrechen und intakte DNA entnehmen können. Mit Hilfe einer neuen Technologie, der Einzelzell-Genomik, haben sie die genomische DNA vervielfältigt oder „amplifiziert“, wie die Forscher sagen. Das ist nötig, um die DNA sequenzieren zu können - sie also in ihre Bestandteile, die Basenpaare, zu zerlegen, die wiederum die Erbinformation enthalten. „Vor 15 Jahren wäre es undenkbar gewesen, die Genome einzelner mikrobieller Zellen zu entziffern“, sagt Dr. Tanja Woyke, Leiterin der Mikrobiellen Genomik am JGI und Leiterin des Projektes. „Es war notwendig, die Zellen im Labor zu züchten, um ausreichend Zellmasse für die Genomentschlüsselung zu erhalten. Doch mit modernen Einzelzell-Techniken benötigen wir nur ein einziges DNA-Molekül“, fügt sie hinzu. Die Forscher konnten 201 unterschiedliche Mikroorganismen (Archaeen und Bakterien) identifizieren, die sich im Labor nicht kultivieren ließen. Bis hierhin wurde die Arbeit in Kalifornien gemacht. Um die Daten für die biologische Interpretation nutzbar zu machen, brauchten die US-Forscher jedoch die Hilfe der Bioinformatik – und haben die Daten an Dr. Alexander Sczyrba vom Centrum für Biotechnologie (CeBiTec) der Universität Bielefeld geschickt.

In Bielefeld wird das Genom-Puzzle zusammengesetzt

Sczyrba ist Leiter der Arbeitsgruppe „Computational Metagenomics“ (Computergestützte Metagenomik) und seine Aufgabe war es, der Datenmenge Herr zu werden. Einige hundert Gigabyte an Sequenz-Daten bekam Sczyrba aus Kalifornien geschickt – die amplifizierten Genome der 201 identifizierten unbekannten Mikroben. Allerdings wurden diese Daten in unzähligen Bruchstücken geliefert. Denn die Millionen von Basen, aus denen mikrobielle DNA besteht, lassen sich auch mit modernster Technik nicht an einem Stück ablesen. Stattdessen liefert die Sequenziertechnik überlappende Abschnitte von etwa 150 Basen. Sczyrba musste die Daten vergleichen, die Überlappungen feststellen und die Basenabfolge anhand dieser „Klebestellen“ wieder zusammensetzen. Schon bei einer „normalen“ Sequenzierung ist das eine Puzzlearbeit, für das der Bielefelder aufwendige bioinformatische Verfahren nutzt. Bei der neuen Einzelzell-Genomik kommt eine weitere Herausforderung hinzu. „Problem ist, dass bei der Amplifizierung die Basen nicht gleichmäßig produziert werden. Es gibt riesige Schwankungen“, erklärt Sczyrba. „Es kann passieren, dass eine Base nur einmal, eine andere gleich hundertausendmal auftaucht.“ Mit einem normalen Assembler – der Software, die die Bruchstücke wieder zu einem kompletten Genom zusammenstellt – wäre die Arbeit nicht möglich gewesen, so der Bioinformatiker. „Wir haben daher neue bioinformatische Methoden entwickelt, um die Schwankungen herauszurechnen. Danach waren wir in der Lage, die Genome zu rekonstruieren.“

Neue Äste am Baum des Lebens

Die 201 untersuchten Mikroben, die Archaeen und Bakterien, zählen zu 29 überwiegend unerforschten Zweigen des „Baum des Lebens“, der eines Tages alle Formen von Leben auf der Erde verzeichnen soll. „Um die neu sequenzierten Genome möglichst genau im Stammbaum zu platzieren, waren einige hunderttausend Stunden an Rechenkapazität nötig. Erfreulicherweise konnten wir hierzu den Computer-Cluster im CeBiTec nutzen“, sagt Sczyrba. „Ohne solch große Rechnerressourcen sind Studien in diesem Maßstab gar nicht durchführbar.“ Danach gingen die Daten zur weiteren Analyse wieder zurück zum JGI, wo der Erstautor der Studie, Dr. Christian Rinke, und sein Kollege und Bielefelder Absolvent Dr. Patrick Schwientek Überraschendes zutage förderten. So ließen sich beispielsweise bei Bakterien Merkmale feststellen, die bislang als typisch für Archaeen galten – und damit Überschneidungen zwischen den bislang strikt getrennten Verwandschaftsästen. Noch ist längst nicht alle mikrobielle dunkle Materie beleuchtet, aber mit ihrer Forschung haben Dr. Alexander Sczyrba von der Universität Bielefeld und das internationale Forscherteam weiteres Licht ins Dunkel gebracht.

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