Der biologischen dunklen Materie auf der Spur
Erst reduzieren – dann vermillionenfachen
Aus den Proben der neun Habitate haben die Forscher in Kalifornien rund 9.000 Einzelzellen gewonnen. Bei etwa 3.300 von ihnen haben sie die Zellwand aufbrechen und intakte DNA entnehmen können. Mit Hilfe einer neuen Technologie, der Einzelzell-Genomik, haben sie die genomische DNA vervielfältigt oder „amplifiziert“, wie die Forscher sagen. Das ist nötig, um die DNA sequenzieren zu können - sie also in ihre Bestandteile, die Basenpaare, zu zerlegen, die wiederum die Erbinformation enthalten. „Vor 15 Jahren wäre es undenkbar gewesen, die Genome einzelner mikrobieller Zellen zu entziffern“, sagt Dr. Tanja Woyke, Leiterin der Mikrobiellen Genomik am JGI und Leiterin des Projektes. „Es war notwendig, die Zellen im Labor zu züchten, um ausreichend Zellmasse für die Genomentschlüsselung zu erhalten. Doch mit modernen Einzelzell-Techniken benötigen wir nur ein einziges DNA-Molekül“, fügt sie hinzu. Die Forscher konnten 201 unterschiedliche Mikroorganismen (Archaeen und Bakterien) identifizieren, die sich im Labor nicht kultivieren ließen. Bis hierhin wurde die Arbeit in Kalifornien gemacht. Um die Daten für die biologische Interpretation nutzbar zu machen, brauchten die US-Forscher jedoch die Hilfe der Bioinformatik – und haben die Daten an Dr. Alexander Sczyrba vom Centrum für Biotechnologie (CeBiTec) der Universität Bielefeld geschickt.
In Bielefeld wird das Genom-Puzzle zusammengesetzt
Sczyrba ist Leiter der Arbeitsgruppe „Computational Metagenomics“ (Computergestützte Metagenomik) und seine Aufgabe war es, der Datenmenge Herr zu werden. Einige hundert Gigabyte an Sequenz-Daten bekam Sczyrba aus Kalifornien geschickt – die amplifizierten Genome der 201 identifizierten unbekannten Mikroben. Allerdings wurden diese Daten in unzähligen Bruchstücken geliefert. Denn die Millionen von Basen, aus denen mikrobielle DNA besteht, lassen sich auch mit modernster Technik nicht an einem Stück ablesen. Stattdessen liefert die Sequenziertechnik überlappende Abschnitte von etwa 150 Basen. Sczyrba musste die Daten vergleichen, die Überlappungen feststellen und die Basenabfolge anhand dieser „Klebestellen“ wieder zusammensetzen. Schon bei einer „normalen“ Sequenzierung ist das eine Puzzlearbeit, für das der Bielefelder aufwendige bioinformatische Verfahren nutzt. Bei der neuen Einzelzell-Genomik kommt eine weitere Herausforderung hinzu. „Problem ist, dass bei der Amplifizierung die Basen nicht gleichmäßig produziert werden. Es gibt riesige Schwankungen“, erklärt Sczyrba. „Es kann passieren, dass eine Base nur einmal, eine andere gleich hundertausendmal auftaucht.“ Mit einem normalen Assembler – der Software, die die Bruchstücke wieder zu einem kompletten Genom zusammenstellt – wäre die Arbeit nicht möglich gewesen, so der Bioinformatiker. „Wir haben daher neue bioinformatische Methoden entwickelt, um die Schwankungen herauszurechnen. Danach waren wir in der Lage, die Genome zu rekonstruieren.“
Neue Äste am Baum des Lebens
Die 201 untersuchten Mikroben, die Archaeen und Bakterien, zählen zu 29 überwiegend unerforschten Zweigen des „Baum des Lebens“, der eines Tages alle Formen von Leben auf der Erde verzeichnen soll. „Um die neu sequenzierten Genome möglichst genau im Stammbaum zu platzieren, waren einige hunderttausend Stunden an Rechenkapazität nötig. Erfreulicherweise konnten wir hierzu den Computer-Cluster im CeBiTec nutzen“, sagt Sczyrba. „Ohne solch große Rechnerressourcen sind Studien in diesem Maßstab gar nicht durchführbar.“ Danach gingen die Daten zur weiteren Analyse wieder zurück zum JGI, wo der Erstautor der Studie, Dr. Christian Rinke, und sein Kollege und Bielefelder Absolvent Dr. Patrick Schwientek Überraschendes zutage förderten. So ließen sich beispielsweise bei Bakterien Merkmale feststellen, die bislang als typisch für Archaeen galten – und damit Überschneidungen zwischen den bislang strikt getrennten Verwandschaftsästen. Noch ist längst nicht alle mikrobielle dunkle Materie beleuchtet, aber mit ihrer Forschung haben Dr. Alexander Sczyrba von der Universität Bielefeld und das internationale Forscherteam weiteres Licht ins Dunkel gebracht.