Die Balance halten: Neue Einblicke in die Steuerung von Stammzellen
Jörg Hülsken/Copyright: MDC
Es gibt eine Reihe von biologischen Signalpfaden, die die Lebensvorgänge steuern. Sie sind zum Beispiel notwendig, damit sich aus einem Embryo ein gesundes Lebewesen entwickeln kann. Weiter halten sie die lebensnotwendigen Funktionen im erwachsenen Organismus aufrecht. Diese Signalkaskaden reichen von der Zelloberfläche bis in die Schaltzentrale der Zelle mit dem Zellkern und der DNA. Kommt es durch Mutationen zu Fehlsteuerungen, können die Folge unter anderem Dickdarmkrebs und Brustkrebs, aber auch Herz-, Gehirn- und andere Krankheiten sein.
Der Wnt-Signalpfad ist einer der bisher am besten erforschten Signalwege. Er spielt bei der Embryonalentwicklung, beim Zellwachstum (Proliferation) und der Zellreifung oder Zellspezialisierung (Differenzierung) eine entscheidende Rolle. Und auch, wie die Forscher jetzt wissen, bei der Steuerung von Stammzellen.
Prof. Nusse legte die Grundlagen für die Erforschung dieses Feldes, als er 1982 ein Gen in Mäusen entdeckte, das er int1 nannte. Int steht für die Integration eines Tumorvirus in die zelluläre DNA. Es war identisch mit dem Gen, das die Tübinger Nobelpreisträgerin von 1995, Prof. Christiane Nüsslein-Volhard, ebenfalls Anfang der 80-er Jahre in der Fruchtfliege Drosophila melanogaster aufgespürt hatte. Sie nannte das Gen wingless (engl. für flügellos; wg), weil Fruchtfliegen mit dieser Genmutation keine Flügel ausbilden können. Dr. Nusse schlug vor, die beiden Namen der Gene zu wnt (wingless plus int) zu verschmelzen. Inzwischen sind rund 20 Wnt-ähnliche Gene bekannt. Im Gesamten umfasst die ganze Wnt-Signalkaskade aber viele Dutzende von Genen.
Relativ neu ist die Erkenntnis, dass die verschiedenen Signalpfade nicht einfach nebeneinander existieren, sondern dass sie auch miteinander kommunizieren. Klappt diese Kommunikation nicht reibungslos, können ebenfalls Krankheiten entstehen.
Stammzellen haben das Potential sich in die verschiedensten Zellen des Körpers zu entwickeln. Sie bilden aber auch das Reservoir, aus dem sich immer wieder Zellen erneuern, wie etwa Blutzellen oder Epithelzellen, die zum Beispiel die Haut bilden und die inneren Organe wie Brustdrüsen oder den Magen-Darm-Trakt auskleiden. Diese Zellen haben alle nur eine begrenzte Lebensdauer. Stammzellen sind außerdem auch die Quelle für die Regeneration von Gewebe nach Verletzungen. "Wnt-Proteine sorgen dafür, dass Stammzellen sich nicht differenzieren (spezialisieren)", betonte Dr. Nusse. Mit anderen Worten, die Wnt-Proteine sind dafür verantwortlich, dass das Reservoir an Stammzellen nicht "austrocknet".
Sobald der Körper jedoch Stammzellen aktiviert, müssen sie sich vermehren. "Das machen aber nicht die Wnt-Proteine, sondern andere Wachstumsfaktoren, etwa FGF (fibroblast growth factor) oder EGF (epidermal growth factor)", erläuterte Prof. Nusse. Diese Faktoren steuern einen anderen Signalpfad, bei dem Tyrosinkinasen eine Rolle spielen, Enzyme, die Proteine aktivieren und inaktivieren können. Vor wenigen Jahren kamen zum Beispiel mit Trastuzumab (Herceptin) und Imatinib (Gleevec) Medikamente auf den Markt, die mutierte Tyrosinkinase-Signalpfade blockieren und die Behandlung von Brustkrebs, Leukämien sowie eines speziellen Magen-Darm-Tumors revolutioniert haben.
In gesunden Zellen arbeiten Wnt und Tyrosinkinasen reibungslos zusammen, damit sich die vermehrenden Stammzellen dann auch spezialisieren (differenzieren) und ausreifen. "Dieses dynamische Zusammenspiel stellt sicher, dass die Balance zwischen Zellvermehrung und Zelldifferenzierung erhalten bleibt", betonte der niederländische Zellbiologe, der seit vielen Jahren in den USA arbeitet.
Gerät diese Balance in eine Schieflage, können gesunde Zellen zu Krebszellen werden. Beispiele dafür sind Brustkrebs und Dickdarmkrebs. Bei 90 Prozent aller Fälle von Dickdarmkrebs beim Menschen ist ein Hauptbestandteil des Wnt-Signalwegs dereguliert, der Tumorsuppressor APC (adenomatous polypolis coli).
In gesunden Zellen liegt das Signalprotein Beta-Catenin, ebenfalls ein Hauptspieler im Wnt-Signalpfad, angekettet an APC und weiteren Proteinen im Zellplasma. Dieser Proteinkomplex stellt sicher, dass Beta-Catenin zur richtigen Zeit im Mülleimer der Zelle, dem Proteasom, abgebaut wird.
Ist APC jedoch mutiert, löst Beta-Catenin sich aus seiner Verankerung, häuft sich im Zellplasma an und dringt dann in den Zellkern vor. Dort bindet es an den T-Zellfaktor TCF und schaltet Gene an. Dieser Vorgang gilt als Initialzündung für die Entstehung von Brust- sowie Dickdarmkrebs.
Prof. Hans Clevers vom Hubrecht Labor und Zentrum für Biomedizinische Genetik in Utrecht, Niederlande, erforscht, wie die Verlagerung von Beta-Catenin aus dem Zellplasma in den Zellkern gesunde Zellen in Darmkrebszellen transformiert. Vor einigen Jahren hatte er TCF, einen der Mitspieler bei diesem Prozess, entdeckt. Diese Entdeckung wurde gleichzeitig auch am MDC in Berlin-Buch von der Arbeitsgruppe von Prof. Walter Birchmeier gemacht.
Wie Prof. Clevers in Berlin sagte, gelten die Verlagerung von Beta-Catenin und die Bindung an TCF zwar als Auslöser für die Krebsentstehung. "Aber eigentlich wissen wir bis heute nicht, was mutiertes und aktiviertes Beta-Catenin/TCF in Dickdarmkrebszellen wirklich macht", sagte er.
Mit seinen Mitarbeitern entwickelte Prof. Clevers Darmkrebszellen, in denen sie einen TCF-Komplex anschalten oder blockieren können. Sie konnten zeigen, dass aktiviertes Beta-Catenin/TCF tatsächlich die Differenzierung von Darmzellen verhindert. Zellen, die nicht differenzieren, geraten außer Kontrolle und wachsen ungehemmt, was charakteristisch ist für Krebszellen.
Blockierten die Forscher aber Beta-Catenin/TCF, konnten sie in den Darmkrebszellen das Differenzierungsprogramm wieder anschalten und hatten die Zellen damit wieder unter Kontrolle. Und das, obwohl die Zellen zahlreiche andere Mutationen aufwiesen. Weiter konnten sie zeigen, dass nicht alleine die Wnt-Signalkaskaden über das Schicksal der Zellen entscheiden, sondern ein weiterer Signalpfad mitbestimmt, der Notch-Weg.
Prof. Clevers und seinen Mitarbeitern gelang es, den Notch-Pfad mit bestimmten Enzymen, Gamma-Sekretase-Hemmern, zu blockieren. Dadurch konnten sie in Geschwulsten des Magen-Darm-Trakts (Adenomen) das Zelldifferenzierungsprogramm wieder anschalten. Adenome sind gutartige Geschwulste, die aber bösartig werden können. "Unsere Daten legen nahe, dass Gamma-Sekretase-Hemmer, die zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit entwickelt werden, möglicherweise für die Therapie von Darmkrebs eingesetzt werden können", ist Prof. Clevers überzeugt.
Der internationale Kongresses im MDC gibt einen Überblick über den Stand der Forschung und einen Ausblick über die mögliche therapeutische Nutzung der bisher gewonnenen Erkenntnisse über diese Signalprozesse. Prof. Birchmeier und Mitorganisator Prof. Dr. Thomas Holstein von der Universität Heidelberg haben für diesen Kongress über 30 Entwicklungsbiologen, Zellbiologen und Krebsforscher aus den USA, Japan und Europa gewinnen können. An der Tagung, die am Sonnabend, den 15. September zu Ende geht, nehmen insgesamt 350 Wissenschaftler teil.