Mathematisches Modell zur Vielfalt der Gehirne

10.01.2006

Max-Planck-Forscher am Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen beschreibt Prinzipien der Selbstorganisation bei der Entwicklung des Gehirns. Mit Hilfe der Mathematik kann der Göttinger Neurophysiker Dr. Fred Wolf die Ausbildung individueller neuronaler Architekturen bei der Gehirnentwicklung erklären.

Das menschliche Gehirn enthält Milliarden von Nervenzellen,von denen jede einzelne an durchschnittlich zehntausend Kontaktstellen mit anderen verknüpft ist. Damit dieser hochkomplexe Apparat solch erstaunliche Leistungen vollbringen kann wie Denken, Lernen oder Sehen, muss die Verschaltung während der Entwicklung des Gehirns im Embryo und frühem Kindesalter präzise geregelt sein. Das heißt aber keinesfalls, dass die Gehirnentwicklung immer nach dem gleichen Schema abläuft - schließlich ist jedes Gehirn ein einzigartiges Produkt und unterscheidet sich von jedem anderen. Dennoch folgt die Entwicklung bestimmten Prinzipien und Gesetzen. Fred Wolf, Leiter der Forschungsgruppe Theoretische Neurophysik am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und Gründungsmitglied des Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen hat für die Entwicklung des visuellen Kortex, der primären Verarbeitungsstation optischer Eindrücke, nun solche Prinzipien mathematisch formuliert. Wolfs Untersuchungen zeigen, warum die gleichen Gesetzmäßigkeiten in verschiedenen Gehirnen in der Regel zu sehr verschiedenen neuronalen Architekturen führen - selbst bei eineiigen Zwillingen.

Jeder visuelle Eindruck unserer Umwelt enthält eine Vielzahl von Linien und Konturen. Neurone im primären visuellen Kortex reagieren stark auf Konturelemente und sind dabei jeweils auf eine bestimmte Orientierung spezialisiert: Manche Neurone reagieren auf waagerechte Linien, andere zum Beispiel auf Konturen im 30-Grad Winkel. Damit das Gehirn aus dem Aktivitätsmuster aller Neurone ein Bild zusammensetzen kann, kommt es sehr genau darauf an, wie Neurone mit bestimmter Orientierungspräferenz angeordnet und wie sie mit anderen Neuronen verschaltet sind.

Mit neuen bildgebenden Methoden kann man heutzutage eine genaue Karte der Verteilung der verschiedenen Neurone mit ihren spezifischen Orientierungspräferenzen im Kortex erstellen. Neurone unterschiedlicher Orientierungspräferenz bilden ein kompliziertes Muster, wobei sich Neurone, die auf die gleiche Richtung reagieren, zu Bereichen zusammenfügen und Bereiche ähnlicher Orientierungspräferenz meist nebeneinander liegen. Die Anordnung der Neurone bestimmter Orientierungspräferenz bildet kein periodisches "Kachelmuster", sondern ist scheinbar chaotisch und unterscheidet sich von Gehirn zu Gehirn. Domänen, die einen kleinen Teil des Gesichtsfelds repräsentieren, enthalten jeweils Gruppen von Neuronen jeder Orientierungspräferenz. Damit das Gehirn ein Bild vollständig erfassen, zum Beispiel einen durchgängigen Strich als solchen erkennen kann, sind Neurone aus verschiedenen Bereichen des Kortex, die auf die gleiche Orientierung reagieren, miteinander verknüpft.

Die Muster der Orientierungspräferenz entstehen beim Menschen und anderen Säugetieren in den ersten Tagen nach der Geburt durch einen Selbstorganisationsprozess. Welche neuronale Kontakte neu entstehen und welche aufgelöst werden, hängt von den schon vorhandenen Kontakten ab. Selbstorganisationsprozesse sind in der Natur keine Seltenheit - allerdings ist die Entwicklung des visuellen Kortex ein Sonderfall unter diesen Prozessen. Die meisten Selbstorganisationprozesse sind physikalische Prozesse oder chemische Reaktionen, bei denen jedes Element nur mit seinem direkten Nachbarn reagiert. Das ist im visuellen Kortex anders. Neurone treten über weite Distanzen miteinander in Kontakt, damit - wie oben beschrieben - das Gehirn aus dem Aktivitätsmuster der Kortexneurone ein Bild erstellen kann. Nur unter Berücksichtigung dieser biologisch relevanten Tatsache ist es Wolf gelungen, ein mathematisches Modell zu entwickeln, das die Prozesse der Musterbildung im Gehirn realitätsnah nachbildet und in ein stabiles Gleichgewicht mündet.

Selbstorganisationsprozesse lassen sich - zumindest theoretisch - im Computer simulieren. Allerdings würde das für einen solch komplexen Prozess wie die dynamische Entwicklung des primären visuellen Kortex die Rechenkapazität jedes heutigen Computers sprengen. Um trotzdem zu einem mathematischen Modell zu kommen, benutzte Wolf Verfahren, das auf so genannten Symmetrieannahmen beruht. Wenn das mathematische Modell die Entstehung eines bestimmten Musters erlaubt - so lautete die Annahme - dann muss auch eine verschobene, gedrehte oder gespiegelte Version dieses Musters zulässig sein. Die Annahme ergibt sich zum Beispiel daraus, dass kein Ort innerhalb eines primären visuellen Kortexareals sich gegenüber einem anderen anatomisch auszeichnet. In der Theorie der Selbstorganisation entwickelte mathematische Methoden erlauben es, aus solchen Symmetrieannahmen Vorhersagen abzuleiten. Dadurch, dass Wolf diese Methoden für den visuellen Kortex nutzbar gemacht hat, wird es nun möglich, mit wesentlich weniger Rechenaufwand die Bildung neuronaler Muster quantitativ zu beschreiben - im Prinzip reichen Papier und Bleistift.

Das Modell von Wolf ist das erste, das die Tatsache mit einbezieht, dass Neurone über längere Distanzen miteinander in Kontakt treten können und damit auch das erste, das realistische Muster vorhersagt, die nicht streng periodisch sind. Zusätzlich stellte sich bei den mathematischen Untersuchungen heraus, dass es in diesem Modell eine sehr große Zahl von möglichen Mustern gibt, deren Entstehung mit den gleichen mathematischen Gesetzen vereinbar sind. So lässt sich dann auch erklären, dass jedes Gehirn ein anderes Muster neuronaler Orientierungspräferenz hat, auch wenn die Gehirnentwicklung strengen mathematischen Regeln folgt.

Originalveröffentlichung: F. Wolf; " Symmetry, Multistability, and Long-Range Interactions in Brain Development."; Phys. Rev. Lett. 2005, 95, 208701.

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