Quantensprung für die Biochemie

Biochemikern können dynamische Prozesse im Nanometer-Bereich "filmen"

04.09.2017 - Deutschland

Technischer Quantensprung mit dem weltweit größten Röntgenlaser XFEL – Lübecker Biochemiker sind unter den ersten Nutzern - Aufklärung der dreidimensionalen Proteinstruktur für die Infektionsforschung

Heiner Müller-Elsner / European XFEL

Arbeiten an den Modulverbindungen im European XFEL-Linearbeschleuniger: Mit einem kleinen Mobil-Reinraum stellen Techniker die Verbindungen zwischen zwei Beschleunigermodulen im Tunnel her

Die Forschergruppe um Prof. Dr. Lars Redecke vom Institut für Biochemie der Universität zu Lübeck und dem Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg zählt zu den ersten Nutzern des weltweit leistungsstärksten Röntgenlasers XFEL. Der Europäische Freie-Elektronen-Laser für Röntgenlicht, an dem elf Länder beteiligt sind, wird am 1. September 2017 in Hamburg und dem schleswig-holsteinischen Schenefeld für die wissenschaftlichen Experimente in Betrieb genommen.

Für die Lübecker Forscher bedeuten die Möglichkeiten des neuen Röntgenlasers einen technischen Quantensprung. In ihren Projekten klären sie die dreidimensionale Struktur von Proteinen (Eiweiß-Molekülen) auf, um die ablaufenden Stoffwechselvorgänge zu verstehen. Damit lassen sich Hemmstoffe entwickeln, die die Funktion eines Proteins blockieren. Dies ist bei vielen Erkrankungen bzw. auch bei Infektionen notwendig, wenn Proteine fehlerhaft arbeiten oder zum „Eindringling“ gehören.

Die Strukturen der Proteine liegen im Nanometer-Bereich (ein Nanometer ist ein Millionstel Millimeter). Da sie nicht, etwa durch Mikroskope, direkt sichtbar gemacht werden können, nutzt man die indirekte Methode der Röntgenbeugung. Die Proteine werden zunächst kristallisiert, um einen Verstärkungseffekt des Signals zu erhalten, und dann mit hochenergetischer Röntgenstrahlung bestrahlt. Die Strahlung wird durch die Atome des Proteins abgelenkt und kann als spezifisches Muster auf einem Detektor sichtbar gemacht werden. Die unterschiedlichen Abbildungen, die durch Bestrahlung aus verschiedenen Orientierungen gewonnen werden, lassen sich zu einer dreidimensionalen Abbildung der Proteinstruktur vereinigen. Diese Methode erfordert einen hohen Rechenaufwand, ist aber seit den 1980-er Jahren gut etabliert.

Die Strahlung wurde bisher in sogenannten Synchrotronquellen gewonnen. Das sind Teilchenbeschleuniger wie das Deutsche Elektronen-Synchrotron in Hamburg, die die auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Teilchen wieder abbremsen, so dass Strahlung entsteht. Die neuen Röntgenlaser, wie es sie seit 2009 in Stanford/USA und nun am DESY gibt, können Röntgenstrahlung erzeugen, die etwa eine Milliarde Mal intensiver ist. Dadurch können zum einen wesentlich kleinere Proteinkristalle zur Strukturaufklärung genutzt werden, die einfacher zu erzeugen sind als die bisher benötigten großen Kristalle.

Noch entscheidender aber ist, dass die gepulste Laserstrahlung es ermöglicht, nicht nur Einzelbilder (Fotos), sondern ganze Bildfolgen dynamischer Prozesse (Filme) aufzunehmen. „Da der neue Europäische Röntgenlaser eine noch höhere Intensität und Qualität der Strahlung als der Laser in den USA liefert, entstehen völlig neue technische Möglichkeiten um die Prozesse in unserem Körper besser zu verstehen“, sagt Prof. Lars Redecke. „Das ‚Filmen‘ der dynamischen Funktionen von Proteinen war lange Zeit ein Traum der Wissenschaftler, der nun mit dem neuen Röntgenlaser in Erfüllung gehen kann.“

Es ist eine besondere wissenschaftliche Anerkennung für die Lübecker Forscher, trotz in-zwischen bestehender langer Wartelisten gleich zu den ersten Nutzern des neuen Röntgenlasers zu gehören. Die Arbeitsgruppe von Prof. Redecke, damals noch eine gemein-same Nachwuchsgruppe der Universitäten Hamburg und Lübeck, war bereits beim Start des Röntgenlasers in Stanford 2010 beteiligt. Sie lieferte dort erste Proben von Protein-kristallen zur Strukturuntersuchung, die im Rahmen eines großen internationalen Forschungsverbundes untersucht wurden.

Seitdem hat die Gruppe vor allem bei Methoden zur Herstellung von geeigneten Proteinkristall-Proben entscheidende Erfahrung gewonnen. Die für die Strukturaufklärung mit Röntgenstrahlung benötigten Kristalle werden im Reagenzglas hergestellt – oft ein zeit- und materialaufwendiges Verfahren. Die Lübecker Gruppe entdeckte zusammen mit Partnern aus Hamburg und Tübingen, dass lebende Zellen, zum Beispiel aus Insekten, ebenfalls in der Lage sind, Proteinkristalle herzustellen. Ihre bisherigen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese „natürliche“ Kristallisation auf viele verschiedene Proteine anwendbar sein kann. „Allerdings gibt es ein Problem“, erläutert Prof. Redecke: „Die in der lebenden Zelle entstehenden Kristalle sind sehr klein - zu klein, um mit der bisher gut etablierten Standard-Methode unter Verwendung der ‚normalen‘ Röntgenstrahlung aus Synchrotronquellen untersucht zu werden.“

Erst der Röntgenlaser ermöglicht es, Beugungsdaten dieser sogenannten „in cellulo-Kristalle“ aufzunehmen und die Struktur der zugehörigen Proteine zu lösen. Die Lübecker Gruppe arbeitet jetzt daran, diese Methode zu einem alternativen Ansatz zu entwickeln, um Proteinkristalle für die Strukturuntersuchung zu erhalten. Dabei hoffen die Wissenschaftler, die Kristalle auch direkt in der lebenden Zelle untersuchen zu können. „Die beschriebenen methodisch-technischen Entwicklungen können auch die Chancen für eine schnelle Wirkstoffentwicklung bei neu auftretenden Erregern künftig deutlich verbessern und somit der Infektionsforschung zu Gute kommen“, sagt Prof. Redecke.

Entsprechende hoch entwickelte Forschung setzt eine internationale und fächerübergreifende Zusammenarbeit voraus. Die erforderlichen Experimente sind nur durchführbar, wenn Ingenieure, Physiker, Chemiker und Biochemiker eng kooperieren. „Die benötigten Kompetenzen können nicht in einer einzelnen Gruppe vorhanden sein“, ist Prof. Redecke überzeugt. „Im Gegenteil, nur eine effektive Kombination der weltweiten Spitzenforschung garantiert die bestmöglichen Erfolge mit der neuen Technik.“ Der Europäische XFEL, gemeinschaftlich finanziert und gemeinsam genutzt, werde die internationalen Forschungsbeziehungen weiter verbessern und auch für die Universität zu Lübeck zu neuen internationalen Kooperationen führen.

Der European XFEL ist eine 3,4 Kilometer lange Anlage, mit der extrem energiereiches Laserlicht mit Wellenlängen von 0,05 bis 5 Nanometern (Röntgenstrahlung) erzeugt werden kann. Die von 2009 bis 2016 gebauten Tunnel reichen vom DESY-Gelände in Hamburg bis ins schleswig-holsteinische Schenefeld, wo der Forschungscampus mit einer unterirdischen Experimentierhalle entstanden ist. Die Baukosten einschließlich der Inbetriebnahme betragen laut der projekteigenen Internetseite 1,22 Milliarden Euro. Insgesamt sind elf Länder am European XFEL beteiligt.

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