„Virtuelles Mikroskop“ für Sinnesforschung entwickelt

08.08.2017 - Deutschland

Die Entwicklung von Sinnesprothesen zum Sehen oder Hören ist ein Ziel von Sinnesforschung. Doch die Arbeit der Sinnesforscher war bisher erschwert, weil sie die natürlichen Verknüpfungen der Nervenzellen dafür nicht genau genug untersuchen können.

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Gefärbte Nervenzelle der Netzhaut in rot, zusammen mit elliptischen Bereichen, die die Umrisse vorgeschalteter Nervenzellen anzeigen.

Eine Forschergruppe der Universitätsmedizin Göttingen hat in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Italienischen Instituts für Technologie ein neues Verfahren für die Sinnesforschung entwickelt. Mit ihm gelingt es, aus Messungen der Reaktionen einzelner Nervenzellen auf sensorische Reize ein Abbild vorgeschalteter Nervenzellen zu rekonstruieren. Das „virtuelle Mikroskop“ macht komplexe Verschaltungen von Nervenzellen „sichtbar“, die bisher nicht erkennbar waren. Dies erleichtert die Untersuchung der Sinnessysteme und damit auch die Entwicklung von Sinnesprothesen.

Die Untersuchungen zur Entwicklung des neuartigen virtuellen Mikroskops für die Sinnesforschung wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Tim Gollisch, Professor für „Sensory Processing in the Retina“ in der Klinik für Augenheilkunde an der Universitätsmedizin Göttingen, durchgeführt. Mit ihrer neuartigen Methode haben die Forscher bereits Verschaltungen von Nervenzellen in der Netzhaut des Auges rekonstruiert. Für die Zukunft hoffen sie, dass sich damit auch Therapiemethoden testen und verbessern lassen, die derzeit zur künstlichen Anregung der Netzhaut im Fall von Blindheit entwickelt werden.

„Die Nervenzellen in unseren Sinnessystemen reagieren auf spezifische Sinnesreize in der Umgebung und lassen uns so beispielsweise Farbe, Bewegungen und Töne erkennen. Auf welche Reizeigenschaften eine Nervenzelle reagiert, hängt größtenteils davon ab, von welchen anderen, vorgeschalteten Nervenzellen sie ihre Eingänge erhält. Im dichten Gedränge der Nervenfasern im Gehirn ist aber meist nicht ohne Weiteres ersichtlich, welche Nervenzellen mit welchen anderen verbunden sind. Dies erschwert die Untersuchung der Sinnessysteme und damit auch die Entwicklung von Sinnesprothesen“, sagt Prof. Dr. Tim Gollisch, Senior-Autor der Publikation.

Wie das virtuelle Mikroskop funktioniert

Um die Verschaltungen der Nervenzellen zu rekonstruieren, bedienen sich die Forscher moderner Analysemethoden aus dem Feld des maschinellen Lernens. Üblicherweise werden diese Methoden beispielsweise für die Analyse von Bildern verwendet, etwa um Objekte in Fotos zu erkennen. Diese Vorgehensweise haben die Forscher abgewandelt, um statt Objekten in Fotos nun einzelne Nervenzellsignale in komplexen Aktivierungsmustern zu erkennen. „Wir verwenden die Datenanalyse wie ein virtuelles Mikroskop, um ein Abbild der neuronalen Verschaltungen zu erstellen“, sagt Prof. Gollisch. „Wir messen die Signale von etwa hundert Nervenzellen einer Zellschicht und können anschließend zirka tausend Zellen der vorhergehenden Zellschicht rekonstruieren und bestimmen, welche einzelnen Zellen zwischen diesen Zellschichten verbunden sind.“

Zugrunde liegt diesem virtuellen Mikroskop ein mathematisches Modell der Verschaltungen. Leistungsstarke Computer helfen bei der Berechnung. Trotzdem dauert es einige Tage, bis die komplexen Rechnungen durchgeführt und die Zellschichten rekonstruiert sind. Anschließend bietet sich ein detailreicher Blick auf die Verschaltungen der Nervenzellen der Netzhaut. „Wenn in einer an sich blinden Netzhaut einige Zellen der einen Zellschicht durch lichtsensitive Proteine künstlich erregbar sind dann können wir mit dieser Methode erfassen, wie die künstliche Erregung an die nächste Zellschicht weitergegeben wird“, sagt Prof. Gollisch. Damit, so die Hoffnung, lassen sich diese Therapieansätze zur Wiederherstellung des Sehsinns bei Blindheit überprüfen und verfeinern, um möglichst natürliche Aktivierungsmuster hervorzurufen.

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