Alte DNA wirft neues Licht auf Neandertaler-Evolution
Genetische Hinweise für weitere Einwanderung nach Europa vor 220.000 bis 470.000 Jahren entdeckt
© Oleg Kuchar, Photo Museum Ulm
Mitochondrien sind die energieerzeugenden Kraftwerke unserer Zellen. Sie haben ihre eigene DNA, die durch die Mutter vererbt wird. Deshalb ist es möglich, mit ihrer Hilfe mütterliche Abstammungslinien zurückzuverfolgen und den Zeitpunkt für die Aufspaltung von Populationen zu bestimmen. Tatsächlich können die Veränderungen in der mitochondrialen DNA dazu verwendet werden, Populationen zu unterscheiden und näherungsweise zu berechnen, wieviel Zeit vergangen ist, seit zwei Individuen zuletzt einen gemeinsamen Vorfahren teilten, da genetische Veränderungen in vorhersagbaren Raten auftreten.
Komplizierte Verwandtschaft zwischen Neadertalern und modernen Menschen
Frühere Forschungsarbeiten, welche die nukleare DNA von Neandertalern und modernen Menschen analysierten, legten die Spaltung der beiden Gruppen auf rund 765.000 bis 550.000 Jahre vor heute fest. Allerdings weisen Studien, die mitochondriale DNA untersuchten, auf eine deutlich spätere Teilung vor etwa 400.000 Jahren hin. Darüber hinaus ähnelt die mitochondriale DNA der Neandertaler eher jener der modernen Menschen. Das deutet auf einen späteren gemeinsamen Vorfahren hin. Damit unterscheiden sie sich von den Denisova-Menschen, deren nukleare DNA eng verwandt ist mit der nuklearen DNA der Neandertaler.
In der Forschung wurden die möglichen Ursachen dieser Diskrepanzen diskutiert. Ein Erklärungsansatz lautet, dass es noch vor der großen Ausbreitungswelle des modernen Menschen eine frühe Urmenschen-Migration aus Afrika gegeben haben könnte. Diese Gruppe, die enger mit dem modernen Menschen verwandt ist als mit den Neandertalern, könnte durch genetische Beimischung ihre mitochondriale DNA sowie einen kleinen Anteil an nuklearer DNA in die Population der Neandertaler in Europa eingeführt haben, jedoch nicht in die Gruppe der Denisova-Menschen.
Um die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios zu bewerten und seine zeitlichen Grenzen zu definieren, wurden jedoch mehr Daten benötigt. Der Oberschenkel eines Neandertalers, der bereits 1937 in der Hohlenstein-Stadel-Höhle (HST) in der Nähe von Ulm gefunden wurde, bot nun eine solche Gelegenheit. „Der Knochen, der vermutlich von einem großen Fleischfresser angenagt wurde, lieferte mitochondriale genetische Daten, die zeigen, dass das Individuum zur Gruppe der Neandertaler gehörte“, erklärt Erstautor Cosimo Posth vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Eine traditionelle Radiokarbon-Datierung war nicht möglich, stattdessen wurde das Alter des Knochens mit Hilfe der molekularen Uhr auf etwa 124.000 Jahre geschätzt. Damit zählt diese Neandertalerprobe zu den ältesten Knochen, deren mitochondriale DNA bis heute analysiert wurde.
Interessanterweise repräsentiert die mitochondriale Linie dieses Neandertalers eine andere mitochondriale Linie als die aller zuvor untersuchten Neandertaler. Beide Linien müssen sich vor sehr langer Zeit, nämlich vor mindestens 220.000 Jahren, getrennt haben. Die Unterschiede in der mitochondrialen DNA deuten darauf hin, dass die mitochondriale genetische Vielfalt bei den Neandertalern größer war, als bisher angenommen. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Bevölkerung der Neandertaler einmal sehr viel zahlreicher war, als man für die Endphase ihrer Existenz schätzt.
Zeitfenster für eine weitere Migration von Urmenschen aus Afrika
Eine mögliche Erklärung ist, dass nach der Aufspaltung von Neandertalern und modernem Mensch (datiert auf maximal 470.000 Jahre vor heute), aber bevor der Neandertaler vom Hohlenstein und die anderen Neandertaler sich genetisch voneinander trennten, eine Gruppe von Urmenschen aus Afrika nach Europa kam und ihre mitochondriale DNA den dort lebenden Neandertalern beimischte. Demnach dürfte diese Migration aus Afrika vor 470.000 bis 220.000 Jahren stattgefunden haben. "Trotz des großen Intervalls bieten diese Daten ein zeitliches Fenster für mögliche Interaktionen zwischen beiden Kontinenten", sagt Posth. Dieser mögliche Zustrom an Urmenschen wäre klein genug gewesen, um keinen großen Einfluss auf die Kern-DNA der Neandertaler zu nehmen. Andererseits wäre er aber groß genug gewesen, um die bestehende Denisova-ähnliche mitochondriale Linie der Neandertaler vollständig zu ersetzen, und zwar durch eine dem modernen Menschen ähnliche mitochondriale Linie.
„Für eine bessere Einschätzung der genetischen Verwandtschaft von Neandertalern, Denisovanern und modernen Menschen wären Kern-Daten aus dem HST-Oberschenkelknochen entscheidend", erklärt Posth. Jedoch sei es aufgrund des schlechten Erhaltungszustands und der hohen Kontamination durch moderne menschliche DNA äußerst schwierig Kern-DNA aus dem Neandertaler-Fund vom Hohlenstein zu rekonstruieren.
Originalveröffentlichung
Cosimo Posth, Christoph Wißing, Keiko Kitagawa, Luca Pagani, Laura van Holstein, Fernando Racimo, Kurt Wehrberger, Nicholas J. Conard, Claus Joachim Kind, Hervé Bocherens, and Johannes Krause; "Deeply divergent archaic mitochondrial genome provides lower time boundary for African gene flow into Neanderthals"; Nature Communications; 4 July 2017