Neue Strategien der Schädlingsbekämpfung
«Schwangere» Stubenfliegenmännchen zeigen Evolution der Geschlechtsbestimmung
Peter Koomen
Das Geschlecht ist eines der wesentlichsten Merkmale eines Individuums – bei Menschen wie auch bei den meisten Tieren und Pflanzen. Alle sich sexuell fortpflanzende Organismen sind normalerweise eindeutig männlich oder weiblich, doch die dafür zuständige genetische Steuerung variiert stark von Art zu Art. Beim Menschen haben Frauen in den Zellkernen zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Das Y-Chromosom trägt das Gen SRY, welches das männliche Geschlecht bestimmt. Entstanden ist dieses Gen vor etwa 150 Millionen Jahren während der Evolution der Säugetiere.
Geschlechtsbestimmung hängt vom Lebensort der Stubenfliegen ab
Bei Insekten gibt es viele verschiedene geschlechtsbestimmende Mechanismen. Insbesondere Fliegen eignen sich gut, um die evolutionsbiologische Entwicklung dieser Vielfalt zu untersuchen. Sehr ungewöhnlich in dieser Hinsicht ist die weit verbreitete Stubenfliege (Musca domestica): Je nach dem, wo sie lebt, bedient sie sich unterschiedlicher Methoden zur Festlegung des Geschlechts. In nördlichen Breitengraden besitzen Weibchen zwei X-Chromosomen, Männchen ein X- und ein Y-Chromosom. Auch hier trägt das Y-Chromosom ein Gen, das die Männlichkeit bestimmt. In südlichen Breitengraden hingegen haben die Stubenfliegen kein Y-Chromosom. Das Gen, das die Männlichkeit festlegt, liegt auf einem der fünf anderen Chromosomen.
Welches Gen bei Stubenfliegen für die Bestimmung der Männlichkeit verantwortlich ist, war bislang unbekannt. Nun ist es der Forschergruppe von Daniel Bopp vom Institut für Molekulare Biologie der UZH zusammen mit Kollegen aus Groningen (Holland) und Göttingen (Deutschland) gelungen, dieses zu identifizieren. Mit genetischen Tricks erzeugten die Wissenschaftler gleichgeschlechtliche Nachkommen und konnten so nach Genen suchen, die schon früh in der Entwicklung ausschliesslich in Männchen aktiv sind.
Wird Männlichkeitsgen vorübergehend ausgeschaltet, werden Männchen «schwanger»
Ein Gen stach bei diesen Analysen heraus, erklärt Entwicklungsbiologe Bopp: «Wenn dieses Gen vorübergehend seine Funktion während der Frühentwicklung verlor, entstanden «schwangere», mit reifen Eiern gefüllte Männchen.» Bei einem totalen Funktionsverlust des Gens wandelten sich Männchen sogar komplett in fortpflanzungsfähige Weibchen um. Das neu entdeckte Gen erhielt den Namen Mdmd (Musca domestica male determiner). Es ist relativ gross und einem schon bekannten Gen, CWC22, sehr ähnlich. Die Forscher gehen davon aus, dass Mdmd aus einer Duplikation des CWC22-Gens hervorgegangen ist.
Die Entstehung neuer geschlechtsbestimmenden Mechanismen
Bei Stubenfliegen aus südlichen Breitengraden liegt das Gen, das die Männlichkeit bestimmt, auf einem sogenannten Proto-Geschlechtschromosom. Vermutlich hat dieses Chromosom aus evolutiver Sicht erst unlängst eine zentrale Rolle in der Geschlechtsbestimmung übernommen. «Mit unserer Arbeit konnten wir zeigen, dass neue Geschlechtschromosomen entstehen, wenn bestehende Gene wie Mdmd vom Y-Chromosom auf ein anderes Chromosom umsiedeln», sagt Daniel Bopp. Nach dem Standortwechsel geht das Y-Chromosom verloren, und das neue Geschlechtschromosom mit dem Mdmd-Gen übernimmt die Funktion, das männliche Geschlecht zu bestimmen.
Vor Beginn dieser Forschungsarbeit waren bei Insekten noch keine Gene für Männlichkeit bekannt. Unterdessen wurden entsprechende Gene bei zwei Mückenarten gefunden. Allerdings zeigt das Mdmd-Gen der Stubenfliege keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden Mückengenen. Dies belegt, wie verschiedenartig die Geschlechtsbestimmung bei unterschiedlichen Arten sein kann, und wie schnell sich das genetische Programm, das für die Entwicklung von Männchen und Weibchen verantwortlich ist, im Verlauf der Evolution verändert.
Neue Strategien der Schädlingsbekämpfung
Die neuen Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen der Geschlechtsbestimmung sind nicht nur für die Evolutionsbiologie wertvoll. Dieses Wissen ist auch sehr nützlich, um neue, nachhaltige Strategien der Schädlingsbekämpfung zu entwickeln. Werden speziell gezüchtete, sterile Insektenmännchen freigelassen, konkurrieren diese mit wilden Männchen um die Weibchen. Nach wiederholten Freisetzungen von mehreren Millionen Männchen bricht die natürliche Population in der betroffenen Region zusammen. Die Technik wurde in der Landwirtschaft bereits erfolgreich gegen Fruchtschädlinge eingesetzt. Zukünftig könnte sie auch bei der Bekämpfung von Krankheitsüberträgern – wie Mücken oder auch Stubenfliegen – eine Rolle spielen. Daniel Bopp betont: «Grundlagenforschung mit Stubenfliegen kann also für die Gesellschaft von grossem Nutzen sein.»