Gen verrät, ob Medikamente wirken
Meilenstein in der Epilepsie-Therapie
„Von diesem neuen Wissen profitieren vor allem Neugeborene und Säuglinge mit schweren epileptischen Anfällen: Sie können jetzt gezielter behandelt werden“, kommentiert die Neurogenetikerin Professorin Christine Klein, stellvertretende Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Das erhöht die Chance der Kinder, rasch anfallsfrei zu werden, und kann Entwicklungsstörungen verhindern.“ Die DGN, die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) und die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) bewerten die Ergebnisse als einen wichtigen Meilenstein in der Behandlung von Epilepsien, die durch eine Mutation des Gens SCN2A ausgelöst werden.
Epilepsien betreffen etwa ein Prozent der Bevölkerung, beinahe jede zweite beginnt im Kindesalter. „Kindliche Epilepsien sind – wie viele neurologische Erkrankungen – oft genetisch bedingt. Immer häufiger findet die Forschung wie in diesem Fall in der Genetik auch einen Schlüssel zur Therapie“, sagt Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität zu Lübeck.
„Die Genetik eröffnet uns eine neue Ära in der Behandlung von Epilepsie-Patienten, ganz im Sinne einer nach dem Gendefekt individualisierten Behandlung“, kommentiert Dr. Thomas Mayer, Chefarzt im Sächsischen Epilepsiezentrum Radeberg und Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE).
Schon Neugeborene betroffen
Eine seltene, aber wichtige Ursache von Epilepsien bei Kindern sind Mutationen im Natriumkanal-Gen SCN2A. Sie lösen schwer verlaufende und sehr schwierig zu behandelnde Epilepsien aus, die auch mit Entwicklungsstörungen einhergehen. SCN2A-Mutationen sind außerdem für weitere neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen verantwortlich, die noch im späteren Lebensalter relevant sind. Neugeborene und Säuglinge mit schweren und häufigen Anfällen benötigen rasch eine wirksame Therapie, damit sich ihr Gehirn gesund entwickeln kann. Doch nicht alle Kinder profitieren gleichermaßen von Epilepsie-Medikamenten, nicht alle erreichen Anfallsfreiheit.
Zeitpunkt des Krankheitsbeginns ausschlaggebend
Das internationale Forscherteam hat mit der wegweisenden Studie die Therapiemöglichkeiten für Kinder mit SCN2A-Mutationen entscheidend verbessert. „Als bemerkenswerte Konsequenz aus der Untersuchung ergeben sich klare Empfehlungen für die Behandlung dieser schwerkranken Neugeborenen, Säuglinge und Kinder. Sie sind für die betroffenen Patienten und ihre Familien sowie für die behandelnden Kinderärzte und Neurologen äußerst hilfreich“, betont Professor Knut Brockmann, Neuropädiater der Universitäts-Kinderklinik Göttingen.
Die systematische Analyse von mehr als 70 Fällen einer SCN2A-Epilepsie zeigt, dass sie bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder in den ersten drei Lebensmonaten beginnt, bei allen anderen später, bis zum Alter von 8 Jahren. Kinder mit einem frühen Krankheitsbeginn profitierten deutlich von einer medikamentösen Therapie mit Natriumkanal-Blockern. Bei den Kindern mit spätem Beginn hatten dieselben Epilepsie-Medikamente jedoch keine oder sogar negative Effekte. Wenn rasch Anfallsfreiheit erzielt werden konnte, verlief die Entwicklung der Kinder zudem insgesamt günstiger.
Therapieeffekt gut vorhersagbar
Die Gruppe um den Neuropädiater Markus Wolff und den Neurologen Holger Lerche konnte durch eine funktionelle Charakterisierung der Effekte einzelner Mutationen außerdem aufklären, welcher Mechanismus dem unterschiedlichen Ansprechen auf eine Therapie zugrunde liegt: Es zeigte sich, dass SCN2A-Mutationen entweder eine Überfunktion oder eine Unterfunktion des Natriumkanals bewirken können – ein wesentlicher Unterschied für den Behandlungserfolg. Überfunktionen, die nur bei frühem Krankheitsbeginn zu finden sind, werden durch Natriumkanal-Blocker deutlich abgemildert. Unterfunktionen, die mit einem späten Krankheitsbeginn einhergehen, werden hingegen verstärkt.
„Der Therapieeffekt bei einer SCN2A-Mutation ist also durch den Krankheitsbeginn und die Art der Epilepsie sehr gut vorhersehbar. Damit wird es möglich, Neugeborenen und Säuglingen mit schweren und häufigen Anfällen rasch die richtige Therapie zukommen zu lassen“, erklärt Dr. Markus Wolff, Leitender Oberarzt der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen, dem leitenden Zentrum der Multicenter-Studie. „Da SCN2A-assoziierte Epilepsien sich häufig bis ins Erwachsenenalter fortsetzen, könnte dies auch für Erwachsene relevant werden. Sie könnten vielleicht schon allein durch das Absetzen der falschen Medikamente profitieren“, ergänzt Professor Holger Lerche, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie am Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung und Universitätsklinikum Tübingen.
Originalveröffentlichung
Wolff M. et al.; "Genetic and phenotypic heterogeneity suggest therapeutic implications in SCN2A-related disorders"; Brain (2017) 140 (5): 1316–1336