Tagträumen – mehr als nur ein Fehler im System
Bei Menschen, die häufig gewollt mit ihren Gedanken abschweifen, überlappen zwei Nervenzell-Netzwerke besonders stark
MPI CBS
Die meisten werden es kennen. Wir sitzen im Auto oder auf dem Fahrrad und denken über Dinge nach, die nichts mit dem eigentlichen Geschehen um uns herum zu tun haben: Habe ich die Tür wirklich abgeschlossen? Was werde ich alles am Wochenende machen? Was muss ich dann eigentlich noch alles einkaufen? Passiert uns das im Straßenverkehr oder in anderen Situationen, die eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit erfordern, kann es für uns gefährlich werden.
Weil Menschen oft Fehler passieren, sobald sie die Konzentration auf ihre Umgebung verlieren, galt Tagträumen lange als Aussetzer in unserem kognitiven Kontrollsystem, das sonst insbesondere unsere Aufmerksamkeit steuert und uns unsere Handlungen planen lässt. Heute weiß man, dass man dieses Phänomen differenzierter betrachten muss: Neben dem ungewollten, spontanen Abschweifen der Gedanken existiert eine weitere Form, bei der wir uns bewusst dafür entscheiden, unseren Gedanken nachzuhängen. Sie kann uns als eine Art mentale Probebühne dienen, auf der wir gedanklich zukünftige Ereignisse durchspielen oder aktuelle Probleme lösen.
Was bisher jedoch nur aus Verhaltensstudien bekannt war, konnten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universität York nun anhand von Hirnstrukturen und -funktionen belegen: „Wir haben herausgefunden, dass bei Menschen, die häufig gewollt mit ihren Gedanken abschweifen, der Cortex in bestimmten präfrontalen Regionen, also im Stirnbereich des Gehirns, dicker ausgebildet ist“, erklärt Johannes Golchert, Doktorand am MPI CBS und Erstautor der zugrundeliegenden Studie. „Außerdem hat sich gezeigt, dass sich bei ihnen zwei entscheidende Hirnnetzwerke stärker überlappen. Zum einen das sogenannte Default-Mode Netzwerks, das besonders aktiv ist, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nach innen, auf Informationen aus unserem Gedächtnis richten. Zum anderen das sogenannte fronto-parietale Kontrollnetzwerk, das als Teil unseres kognitiven Kontrollsystems unseren Fokus stabilisiert und etwa irrelevante Reize hemmt.“
Indem beide Netzwerke stärker miteinander verknüpft sind, könne das Kontrollnetzwerk stärker auf unsere losen Gedanken einwirken und ihnen so eine stabilere Richtung geben. Das sei der Beleg dafür, dass unsere geistige Kontrolle im Falle des gezielten Tagträumens keineswegs aussetze. „Unser Gehirn scheint hier kaum einen Unterschied darin zu machen, ob unsere Aufmerksamkeit nach außen auf unsere Umgebung oder nach innen auf unsere Gedanken gerichtet ist. In beiden Fällen ist das Kontrollnetzwerk eingebunden“, so der studierte Psychologe. „Tagträume sollten also nicht nur als etwas Störendes betrachtet werden. Kann man sie gut kontrollieren, sie also unterdrücken, wenn es wichtig ist, und ihnen freien Lauf lassen, wenn es möglich ist, kann man den größtmöglichen Nutzen aus ihnen ziehen.“
Untersucht haben die Neurowissenschaftler diese Zusammenhänge mithilfe von Fragebögen und anschließender Magnetresonanztomographie. Zunächst sollten sich die Studienteilnehmer selbst einschätzen, wie stark Aussagen wie „Es passiert mir häufig, dass meine Gedanken spontan abdriften“ oder „Ich erlaube mir, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen“ auf sie zutreffen würden. Ihre Angaben zum Tagträumen wurden dann in Zusammenhang mit ihren Hirnstrukturen und deren Zusammenwirken gebracht.
Originalveröffentlichung
Golchert, J.; Smallwood, J.; Jefferies, E.; Seli, P.; Huntenburg, J. M.; Liem, F.; Lauckner, M.; Oligschläger, S.; Bernhardt, B.; Villringer, A.; Margulies, D. S.; "Individual variation in intentionality in the mind-wandering state is reflected in the integration of the default-mode, fronto-parietal, and limbic networks"; NeuroImage; 2017; 146, 226 - 235.