Wundersame Vermehrung
From Briers Y et al, PLOS ONE, 2012
From Studer et al, 2016, NatComm.
Vor ein paar Jahren entdeckten Forscher aus der Gruppe von ETH-Professor Martin Loessner, dass stäbchenförmige Listerien kugelig werden können. Diese sogenannten L-Formen unterscheiden sich grundsätzlich von der normalen Bakterienform. Sie entledigen sich ihrer Zellwand, werden dadurch kugelrund und können sich durch eine Art Knospung vermehren, indem Mutterzellen nach aussen oder in ihr Inneres Tochterbläschen «abperlen». Das Besondere daran: Nicht alle dieser Bläschen enthalten Erbsubstanz.
L-Formen entstehen etwa dann, wenn gegen Listerien, die schwere Lebensmittelinfektionen verursachen können, Antibiotika eingesetzt werden. Dies bringt die Bakterien dazu, ihre Zellwand – den Angriffspunkt für den Wirkstoff – abzustreifen. Die verbleibenden Vesikel sind nur durch eine einfache Membran abgegrenzt, was viele Antibiotika wirkungslos werden lässt.
L-Formen kommen nicht nur bei Listerien vor. Auch Mykoplasmen, Rickettsien und Chlamydien, allesamt Krankheitserreger des Menschen, können natürlicherweise ohne eine stabile Zellwand auskommen. L-Formen sind jedoch nur unter geeigneten Bedingungen lebensfähig. Stimmen die osmotischen Verhältnisse nicht oder ändern diese rasch, sind diese Zellen sehr instabil.
Lebensfähige Zelle oder totes Zufallsprodukt?
Ob die gebildeten Vesikel, wie die Bläschen in der Fachsprache heissen, allgemein lebensfähig sind, konnten die Forschenden bislang nicht eindeutig nachweisen. Neue Experimente von Loessner und seiner Gruppe machen nun aber klar: Die L-Formen sind eine eigenständige Form von Leben, welche sich unbegrenzt vermehren kann. «Wir haben also früher keine Artefakte beobachtet, sondern eine alternative Lebensform dieser Bakterien», betont Loessner.
Darin zeigen die Forschenden auf, dass die Vesikel sich vermehren, indem ein Muttervesikel ein Tochterbläschen in ihr Inneres einstülpt oder eines nach aussen ablöst. Diese wiederum erzeugen auf dieselbe Weise weitere Vesikel.
Zufällige Beigabe von Erbgut
Mit der ersten Membran-Einstülpung in ihr Inneres, dem Cytoplasma, schnürt die Mutterzelle ein Vesikel ab, das mit Stoffen aus dem Umgebungsmedium gefüllt ist. Diesem ersten Tochtervesikel fehlen meist sämtliche Zellbestandteile sowie auch das Erbgut. Das vom ihm nach innen abgeschnürte zweite Bläschen ist hingegen mit dem Plasma des Muttervesikels gefüllt. Darin können nun Bestandteile einer Zelle, die sie zum Leben befähigen, vorhanden sein, wie Chromosomen und Ribosomen, die Produktionsstätten für Proteine. Ob dieses zweite Vesikel tatsächlich Erbgut enthält, ist allerdings nicht geregelt und zufällig. Es ist jedoch gross genug, damit alle lebensnotwendigen Prozesse in ihm ablaufen können.
Verrücktes Netzwerk von Bläschen
Als kleinere wissenschaftliche Sensation wertet Loessner den Fakt, dass er und seine Gruppe im Zuge ihrer Forschung an den Listeria-L-Formen feine elastische Verbindungsschläuche zwischen den nach aussen abgegebenen Vesikeln entdeckt haben. «Die Vesikel bilden untereinander ein ziemlich verrücktes Netzwerk», sagt er. Die Schläuche bestehen wie Membranen aus Fettmolekülen. Dadurch bilden die Bläschen ein Kontinuum, ähnlich wie ein Pilzgeflecht. Bis zur vollständigen Abtrennung tauschen die Vesikel über diese Schläuche Cytoplasma aus.
Genauso aussergewöhnlich ist, dass die L-Formen für die Vermehrung weder eine Zellwand noch ein ringbildendes Protein, das normale Bakterienzellen mit Zellwand bei ihrer Teilung benötigen, brauchen. «Falls es in der Evolutionsgeschichte Zellen ohne Zellwand gab, dann haben sie sich vermutlich so wie die L-Formen geteilt», erklärt Loessner. Das sei allerdings kein biologischer Vorgang, sondern eher ein physikalischer, der direkt von der Menge an gebildetem Membranmaterial abhängt. «Die Vermehrung folgt den Gesetzen der Thermodynamik.» Die L-Formen sind deshalb mit Seifenblasen vergleichbar. Diese verdanken ihre Stabilität (und Teilung) ebenfalls rein physikalischen Grundsätzen.