Ungeahnte Formenvielfalt roter Blutkörperchen
Forscher stellen gängige physikalische Vorstellung des Fließverhaltens von Blut in Frage
Copyright: Forschungszentrum Jülich
Blut ist dicker als Wasser, sagt der Volksmund. Physikalisch betrachtet ist das ohne Zweifel richtig. Doch greift es zu kurz, sich den Lebenssaft als einfache Flüssigkeit vorzustellen. Fast die Hälfte jedes Blutstropfens besteht aus zellulären Bestandteilen, vor allem roten Blutkörperchen. Von diesen Zellen, auch Erythrozyten genannt, tummeln sich etwa 4,5 bis 5,5 Millionen in jedem Kubikmillimeter. Sie bestimmen wesentlich die Viskosität: Je höher der Erythrozytgehalt, umso zähflüssiger ist das Blut. Ebenso wichtig ist die so genannte Scherrate – die Kraft, die beim Fluss entlang einer Gefäßwand auf die Erythrozyten wirkt. Sie wirkt der Neigung der Zellen entgegen, zusammen zu kleben, und verringert so die Viskosität. Weil die Scherrate umso größer ist, je schneller das Blut fließt und je kleiner der Gefäßdurchmesser ist, kann Blut bei großen Anstrengungen leichter die Blutgefäße durchfließen; das entlastet das Herz.
Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich sowie der französischen Universität Montpellier fanden nun Hinweise darauf, dass auch die Formbarkeit der roten Blutkörperchen einen entscheidenden Anteil an der Fließfähigkeit des Blutes hat. Bei zahlreichen Fließexperimenten hatten Forscher bisher charakteristische Bewegungen roter Blutkörperchen beobachtet: Die Erythrozyten bewegten sich ähnlich wie Wassertropfen, die eine Glasscheibe entlang laufen. Im Ruhezustand haben Erythrozyten die Form eines Diskus mit verdicktem Rand.
Die Forscher fanden bei ihren Experimenten und Computersimulationen nun mehrere ganz andere Formen und Bewegungen, abhängig von der Konzentration der Blutzellen sowie der Scherrate. "Unsere Untersuchungen legen nahe, dass physiologische Phänomene, bei denen man bisher von einer tropfenähnlichen Bewegung der Erythrozyten ausgegangen ist, neu untersucht werden sollten", berichtet Prof. Gerhard Gompper, Direktor am Institute for Advanced Simulation und am Institute of Complex Systems des Forschungszentrums Jülich. Es sei möglich, dass Störungen der Formbarkeit der roten Blutkörperchen eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung von Krankheiten einnehmen, die mit gestörter Durchblutung einhergehen.
Früheren Untersuchungen blieb die Formenvielfalt verborgen, da dabei Flüssigkeiten verwendet wurden, die um ein Vielfaches viskoser waren als das Innere der roten Blutkörperchen, so die Forscher. "Dies sollte im Labor die hohen Scherraten und hohen Scherkräfte zugänglich machen, die in echtem Blut in der Mikrozirkulation auftreten", erläutert Dr. Dmitry Fedosov, Mitarbeiter am Institute of Complex Systems. "Unter physiologischen Bedingungen beträgt jedoch die Viskosität des Blutplasmas nur etwa ein Fünftel der Viskosität innerhalb der Erythrozyten." Deshalb hat das Jülicher Team die Fließbewegung roter Blutkörperchen nun bei realitätsnahen Bedingungen simuliert, ebenso wie die französischen Kooperationspartner des Teams ihre Kapillar- und Scherexperimente nun in Flüssigkeiten durchführten, deren Viskosität den natürlichen Bedingungen näher kam.