Genetischer Code: «Stop» heisst nicht immer «Stop»

19.08.2016 - Schweiz

Bisher galt der genetische Code, mit dem Erbinformationen vermittelt werden, seit der Entstehung des Lebens als unverändert. Nun haben Berner Zellbiologen in Wimpertierchen einen Baustein der genetischen Kommunikation entdeckt, bei dem mehrere «Interpretationsmöglichkeiten» bestehen. Darin zeigt sich ein bisher unbekanntes Zwischenstadium der Evolution.

© UniBE/Estienne Swart

Aufnahme des Wimpertierchens Condylostoma magnum mit ringförmig angeordnetem genetischem Code. Die roten Sterne markieren Stop-Codone.

In der Sprache lässt sich bei einem Wort mit mehreren Bedeutungen die richtige Bedeutung aus seinem Kontext ableiten. Da sich die menschliche Sprache entwickelt, können Wörter ihre Bedeutung auch ändern. Die Biologie hat ebenfalls eine Sprache, mit der sie Informationen vermittelt: Der genetische Code ist so etwas wie die Universalsprache des Lebens und gilt für alle Lebewesen – von den einfachsten Bakterien bis zum menschlichen Körper. Der genetische Code gibt vor, wie eine Sequenz der DNA (Desoxyribonukleinsäure) in Aminosäuren übersetzt wird. Aminosäuren sind die Bausteine der Proteine. Somit kann aus einem DNA-Abschnitt – einem Gen – der Bauplan eines Proteins abgelesen und umgesetzt werden.

Der genetische Code ist aussergewöhnlich stabil: Seit seiner Entstehung vor rund 4 Milliarden Jahren scheint er sich während der Evolution nicht verändert zu haben. Es sind immer drei «Buchstaben» der DNA, die für eine bestimmte Aminosäure codieren. Insgesamt sind es 61 «Wörter» in dieser biologischen Sprache, sowie drei sogenannte Stop-Codons, die «Schlusspunkte»: Sie definieren das Ende eines Satzes und somit das Ende der Proteinproduktion. Im genetischen Code herrscht Klarheit, hier gibt es keine Ambivalenz – so galt bisher die Lehrmeinung. Nun haben Forschende des Instituts für Zellbiologie der Universität Bern herausgefunden, dass es für ein Codon mehrere Bedeutungen gibt. Ihr Forschungsobjekt sind Wimpertierchen, einzellige Organismen, die in nahezu allen Gewässern verbreitet sind. Diese Entdeckung im genetischen Code von Wimpertierchen stellt einen bisher unbekannten Zwischenschritt in der Evolution dar.

Dogma hat sich als falsch erwiesen

«Als wir den genetischen Code von zahlreichen Wimpertierchen-Arten untersuchten, stellten wir fest, dass zwei Arten überall in ihrem Code Stop-Codons zu haben schienen», sagt Prof. Mariusz Nowacki vom Institut für Zellbiologie, Leiter der Studie. Für ein Ribosom, die Zellmaschine, die den Code liest und in Proteine übersetzt, würde dies aussehen wie Sätze mit einem Punkt nach jedem zweiten Wort. Die Forschenden erkannten rasch, dass diese «Schlusspunkte» eine weitere Bedeutung haben mussten. Tatsächlich ist bereits bekannt, dass Stop-Codons in seltenen Fällen bei Wimpertierchen die Produktion einer Aminosäure veranlassen können – wobei die tatsächlichen «Satzenden» anders kommuniziert werden.

Zu ihrer Überraschung fanden die Forschenden um Nowacki aber heraus, dass einige dieser Stop-Codons jedoch auch tatsächlich «Stop» sagen, und den Ribosomen eindeutig vermitteln, dass sie mit der Proteinproduktion aufhören sollen. «Wir schliessen daraus, dass diese Codons abhängig vom jeweiligen Kontext gelesen werden», sagt Nowacki. Damit stossen die Forschenden das Dogma des genetischen Codes um, dass die «Wörter» jeweils nur eine einzige Bedeutung haben. Weitere Analysen zeigten, dass strukturelle Eigenschaften am Ende der Codier-Sequenz vorgeben, wie das Ribosom das Drei-Buchstaben-Wort «versteht» – aber wie das Ribosom diesen Kontext genau ablesen kann, ist noch unklar.   

Ambivalent oder nicht?

«Wir waren uns bezüglich dieser Codons ursprünglich nicht einig, ob wir sie als ,ambivalent’ bezeichnen sollen», sagt Nowacki. Denn der Kontext gibt klare Hinweise darauf, wie das Codon interpretiert werden soll. Die biologische Sprache ist somit klar – das Ribosom «weiss» sehr gut, wie es mit den verschiedenen Bedeutungen umzugehen hat. «Genauso wie wir einen Volkswagen Golf nicht mit der Sportart verwechseln, liefert hier der Kontext auch genug Information mit, um die korrekte Bedeutung zu verstehen», erklärt Nowacki. Stattdessen sprechen die Forschenden lieber von «kontextabhängigen» Codons.

Gemäss den Berner Zellbiologen sind diese Resultate nicht nur interessant, weil sie zeigen, dass sich einfache Wahrheiten bei zellulären Mechanismen oft als ungültig herausstellen. Nowacki vermutet, dass sein Team unbeabsichtigt ein «Übergangsstadium» in der Evolution dieses spezifischen Zell-Mechanismus entdeckt hat – und sozusagen Evolution direkt im Entstehen beobachtet hat. Diese Anomalie weiter zu untersuchen, könnte Biologen dabei helfen, besser zu verstehen, wie der genetische Code sich in einigen Arten von Lebewesen stufenweise entwickelt. «Offenbar ist die biologische Sprache doch nicht so ‘festgefroren’ wie wir dachten», sagt Nowacki. 

Originalveröffentlichung

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