Was von der Ehec-Krise bleibt

Sind unsere Lebensmittel fünf Jahre danach sicherer?

06.05.2016 - Deutschland

(dpa) Manche Ereignisse zerschneiden das ganze Leben in vorher und nachher. Sie fressen sich tief in die Erinnerung der Betroffenen ein. Bei anderen Menschen bleibt eine vage Angst: die Angst vor etwas, was keiner im Griff hat. So ein Ereignis war die Ehec-Epidemie vor fünf Jahren in Deutschland. Der lebensgefährliche Darmkeim machte Tausende Menschen oft über Nacht krank. Der Erreger schürte die Furcht vor gesunder Rohkost: vor Salat, Gurken, Sprossen. Und er zog weltweit Kreise.

«An jenem Tag hat uns der Blitz getroffen», sagt Antonio Lavao. Der spanische Unternehmer und Gemüse-Exporteur denkt ungern an den 26. Mai 2011 zurück. Der aggressive Ehec-Keim grassiert seit Anfang Mai besonders in Norddeutschland. Er sorgt für blutige Durchfälle und Nierenversagen. Die Krankenhäuser sind voll.

Behörden und Forscher suchen nach verseuchtem Gemüse als Quelle. Ende Mai nennen die Behörden in Hamburg dann den Namen seines Unternehmens: Auf Gurken, die die Firma Frunet geliefert hatte, seien Ehec-Erreger gefunden worden. Das Kürzel steht für «enterohämorrhagische Escherichia coli».

Wenige Tage später sollte sich die Schuldzuweisung als falsch herausstellen. Die Ehec-Bakterien an den Gurken auf dem Hamburger Großmarkt haben nichts mit der Epidemie zu tun. Wo sie genau herkamen, bleibt ungeklärt. Der schlimme Keim gehört zu einem anderen Stamm: Ehec O104:H4, so der Fachname.

Für Lavaos Betrieb kommt der entlastende Befund zu spät. «Wir waren tot», beschreibt Vertriebschef Richard Soepenberg (51) die Situation. Um 17 Uhr habe der erste Kunde angerufen, um seine Bestellung zu stornieren. «Um 20 Uhr hatten wir keine Kunden mehr», erinnert sich der Niederländer. Bald stehen TV-Teams auf dem Hof. Die Firma, rund 40 Kilometer östlich von Málaga, ist weltweit in den Schlagzeilen.

Seit Jahren ist Frunet auf Bioware spezialisiert, vertreibt Gurken, Zucchini, Auberginen und Paprika aus der Region. Der Betrieb baut außerdem selbst Tomaten sowie Avocados und Mangos an. Der 45-jährige Lavao lacht oft, wenn er von der Gründungszeit vor 20 Jahren erzählt. Der dreifache Familienvater, dunkelhaarig und mit Bart, ist jovial und offen. Der Andalusier ist mit Leidenschaft bei der Sache. Sein Motto: Es ist besser, in einem kleinen Bereich groß zu sein, als in einem großen Geschäftsbereich klein. 2011 läuft das Geschäft für Lavao gut, Deutschland ist der wichtigste Markt.

Dann steht sein Betrieb plötzlich am Pranger. Rund 50 Arbeitsplätze, fast die Hälfte der Stellen, habe er streichen müssen. Sein Lächeln ist verschwunden. «Es gab eine Zeit, da habe ich Angst gehabt, dass sie mich ins Gefängnis stecken», erzählt er. «Für etwas, was ich nicht getan hatte und von dem ich keine Ahnung hatte.» Der Stress setzt ihm zu, zwei Nierenkoliken bringen ihn ins Krankenhaus.

Betroffen von der Ehec-Krise ist aber nicht nur Lavaos Unternehmen. Gemüsebauern vielerorts in Europa erleiden Verluste. Verbraucher meiden frische Ware. Schließlich weiß noch keiner, ob der unsichtbare Feind nicht in Tomaten, Spinat oder Blattsalaten steckt. Die Europäische Union (EU) springt mit Millionenhilfen ein.

Antonio Lavaos Firma ist bald wieder aus den Medien raus. Dafür richtet sich der Blick auf einen kleinen Biohof in Niedersachsen. Er liegt südlich von Lüneburg. In kriminalistischer Kleinarbeit, mit Befragung von Kranken und dem Nachzeichnen von Lieferwegen, findet eine sogenannte Task Force Ehec eine Spur. Die Indizien deuten auf diesen Sprossen-Anbieter als einen Ausbruchsort.

Heute - fünf Jahre nach ihrer existenzgefährdenden Krise - wollen die Betreiber nicht mehr darüber sprechen. Das grüne Metalltor am Ende der Dorfstraße bleibt verschlossen. Wenn man anruft, läuft nur der Anrufbeantworter. Ähnlich wie damals.

Vor dem Hof am Ortsrand stehen an einem warmen Junitag 2011 plötzlich die TV-Übertragungswagen. Sie senden live in die USA und nach Großbritannien, nach Frankreich oder Russland. Mehrere Sender sind aus Lavaos Heimat Spanien angereist.

Heute sieht die Straße so ruhig aus wie vorher. Der Hof hat auf dem Marktplatz von Lüneburg seinen kleinen Stand. Mittwochs und samstags. Doch damals hat es den Betrieb schwer getroffen.

Von einst 15 Mitarbeitern seien nur wenige übrig geblieben, hat einer der Geschäftsführer ein Jahr nach der Krise gesagt. Nach sechs Wochen hätten er und seine Partnerin einen Nervenzusammenbruch erlitten. Auf dem Biohof nahmen Experten in Schutzanzügen Proben. Rund tausend Stück. «Obwohl bei uns nichts gefunden wurde, sind wir in der Öffentlichkeit immer noch der Ehec-Hof», so der Betreiber damals. Die Behörden gehen davon aus, dass Sprossensamen aus Ägypten, die dort angezogen wurden, viele der Krankheitsfälle auslösten.

Eine der rund 4000 Kranken ist Brigitte Weden. «Das war das totale Chaos», erinnert sich die 76-Jährige an die Situation, als sie im Mai das erste Mal ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) kommt. Am Morgen nach dem Duschen hat sie Blut im Handtuch bemerkt. «Ich dachte sofort: Das ist Ehec.» Die ehemalige Sekretärin fährt in die Klinik. Dort wartet sie mit rund 100 mutmaßlichen Ehec-Patienten. Nach mehreren Stunden wird sie untersucht - und nach Hause geschickt.

Daheim sei die Durchfall-Krankheit erst richtig losgegangen. «Das Blut wurde immer mehr. Ich habe zwei Nächte auf dem Klo verbracht. Es war furchtbar.» Auch beim zweiten Klinik-Besuch sei sie weggeschickt worden. «Ich hab' mich verpackt wie ein Baby», sagt sie beschämt. Irgendwann entscheidet die Tochter, den Notruf zu verständigen.

Nach der Klinik-Aufnahme änderte sich die Behandlung. «Man hat sich sehr um mich gekümmert», sagt die weißhaarige Frau anerkennend. Sie sei am Herzen operiert worden. Die Herzkranzgefäße hätten an drei Stellen «rebelliert». Der Erreger, der einen Gift-Cocktail abgibt, habe aber vor allem in ihrem Kopf sein Unwesen getrieben. Irgendwann werden ihre Blutwerte besser. Nach zwei Wochen kehrt sie - noch schwach - nach Hause zurück.

Rolf Stahl, Professor für Innere Medizin und Nierenheilkunde am UKE, urteilt heute, dass die Klinik insgesamt einen «exzellenten Job» gemacht habe. Die hohe Zahl der Patienten war für viele Häuser damals eine Herausforderung. Dass im UKE alles perfekt gelaufen sei, behauptet der Ehec-Experte nicht. Aber: «Wir haben gelernt, wie man mit solchen Ausbrüchen umgehen kann.» Bei einer ähnlichen Epidemie wäre das Klinikum noch besser aufgestellt, ist sich Stahl sicher.

Brigitte Weden fühlt sich weiter nicht völlig gesund. Auch wenn sie wieder ehrenamtlich in einem Bürgercafé arbeitet. «Ich habe durch die Krankheit einen Schlag mitgekriegt.» Zwei Jahre danach sei Bluthochdruck dazugekommen. Manchmal könne sie nicht gut sprechen.

Worum sie heute beim Essen einen Bogen macht? Die Salattheke im Supermarkt um die Ecke. Sie glaubt, dass die Erreger in einer Portion versteckt waren, die sie sich mit Sprossen zusammengestellt hatte.

Anders als Brigitte Weden denken viele Verbraucher am Gemüsestand kaum noch an das Schreckgespenst Ehec. Zumal die Politik angesichts von mehr als 50 Ehec-Toten 2011 versprach, Gesetze und Kontrollen bei Lebensmitteln zu prüfen. Mit welchem Ergebnis? Sind Sprossen heute entspannt genießbar? Sind Salate und anderes Grünzeug unbedenklich?

Unser Essen sei nach der Ehec-Krise sicherer geworden, stellt das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Berlin fest. Viele Experten stimmen zu.

«Die Lebensmittel in Deutschland sind sicher. Aber: Krankheitserreger in Lebensmitteln lassen sich nicht zu 100 Prozent vermeiden», sagt etwa Juliane Bräunig, Fachgruppen-Leiterin beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR).

In der gesamten EU gucken die Behörden den Sprossen-Produzenten seit 2013 genauer auf die Finger. Hersteller müssen selbst regelmäßige Ehec-Tests machen. Denn von dem gefährlichen Erreger O104:H4 reichen schon wenige Exemplare, um gesunde Erwachsene aus der Bahn zu werfen.

Verbraucherschützer, etwa von Foodwatch, beklagen allerdings, dass viele Regel-Verschärfungen nur Sprossen betreffen. Und nicht auch andere Frischwaren wie in Tüten verpackte Salate oder Gurken.

Als Erfolg werten alle, dass die Meldung des Arztes - Achtung, Ehec-Patient - heute schneller beim Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin eintreffen muss. Dort führen Experten Buch über gefährliche Infektionen. Drei bis fünf Tage sind für den Weg vorgesehen. 2011 dauerte es oft mehr als 14 Tage. So war ein Großteil der kontaminierten Ware vor fünf Jahren schon gegessen, als im Juni die Warnung vor verseuchten Bockshornklee-Sprossen rausging. Also Fortschritt? Ja. Hundertprozentiger Schutz beim Essen: nicht machbar.

So ähnlich sieht es bei der Forschung aus: «Es gab erstaunlich viele wissenschaftliche Publikationen als Folge des Ausbruchs zu vielen Themenbereichen: 133 Arbeiten in 4 Jahren danach», fasst Prof. Gerard Krause, Mediziner vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, zusammen. Er war 2011 noch selbst beim RKI und bei der Fahndung nach dem Auslöser dabei gewesen.

Trotzdem klaffen Lücken. Eines der größten Rätsel ist, wie Ehec O104:H4 denn genau in die Samen aus Ägypten oder in die Sprossen kam. Ein Verdacht: Das Bakterium ist in der Lage, lange, vielleicht Jahre, in einem «Schlafzustand» auszuharren. Dann wird es durch irgendetwas geweckt. Es vermehrt sich und schüttet sein Gift im Menschen aus.

Mindestens genauso spannend ist die Frage, wo der aggressive Angreifer nach dem Ende der Epidemie hin ist. «Nach wie vor kennen wir nicht das Reservoir, also den Ort, wo der Erreger sich aufhält bis zu einem Ausbruch», sagt einer der besten Ehec-Kenner, Professor Helge Karch aus dem westfälischen Münster. Er vertritt die These: Es gibt hierzulande Menschen, die, ohne erkrankt zu sein, mit diesem Keim besiedelt sind. Und die ihn auch ausscheiden.

Noch im September 2015 hat sein Labor am Institut für Hygiene den Ehec-Keim aus einer Stuhlprobe in Nordrhein-Westfalen isoliert. «Der Stamm O104:H4 kommt noch vor, aber er hat keine Ausbrüche mehr verursacht und ist selten, eine Rarität», sagt Karch. Das heißt: kein Grund zur Angst, aber zur Vorsicht.

Auch in Spanien hat die Firma Frunet die Vorsichtsmaßnahmen noch mal erhöht. Bevor Besucher die Halle betreten, müssen sie, ähnlich wie in einer Arztpraxis, einen Fragebogen ausfüllen: «Waren Sie in der letzten Woche krank? Hatten Sie eine Durchfall- oder Magenerkrankung?» Unternehmer Antonio Lavao erläutert: «Von jeder Lieferung behalten wir zur Kontrolle eine Probe hier.» Die Firma achte noch stärker auf Lebensmittelsicherheit. «Wir machen noch mehr Kontrollen und noch mehr Laboranalysen.»

In der großen Krise kommt damals auch der Vorschlag, die Firma zu schließen. Oder den Namen zu ändern. Betriebswirt Lavao rückt seine Brille zurecht und ballt die Faust: «Aber diesen Gedanken fand ich unwürdig, ich hätte das als persönliche Niederlage empfunden.»

Also geht er in die Offensive. Das Unternehmen aus Algarrobo engagiert eine internationale Beraterfirma und eine Anwaltskanzlei in Deutschland, Lavao gibt eine Pressekonferenz in Hamburg, auf der er sich gegen die Vorwürfe zur Wehr setzt.

Im September 2011 kommt die Wende - auch emotional. Und dies hat der Spanier ausgerechnet einem Großkunden aus Deutschland zu verdanken. Dieser wollte bei ihm Mangos bestellen. «Ich fragte ihn, ob wir unseren Firmennamen von den Etiketten entfernen sollten», erzählt Lavao. «Aber warum denn, ihr habt ja nichts falsch gemacht», habe der Kunde erwidert. «Das hat uns sehr viel Kraft gegeben.»

Ende 2011 verklagt das Unternehmen die Stadt Hamburg auf 2,3 Millionen Euro Schadenersatz. Weil Ende Mai bei der Warnung vor dem Verzehr spanischer Gurken auch der Firmenname genannt wurde. Im Oktober 2015 gibt das Landgericht der Klage zum Teil statt. Die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz geht in Berufung: Sie sieht die Art und Weise der Warnung weiter als rechtens an.

Die meisten Kunden, berichtet Lavao, seien im Laufe der Jahre zurückgeholt worden (Umsatz 2015: rund 29 Millionen Euro). Deutschland sei aber nicht mehr der Hauptabnehmer.

«Es gibt zweifellos ein Vorher und ein Nachher», sagt Lavao. Auch privat. Als alles soweit im Lot war, zog er mit seiner Frau und den drei Kindern für ein Jahr nach England. Er habe Abstand gebraucht. Die Firma bleibe ein wichtiger Teil seines Lebens, «aber die Familie kommt nun an erster Stelle».

Und die Gurken? Damals machten sie nur einen kleinen Teil der Exporte aus. «Eigentlich waren wir uns einig, sie nach alledem aus dem Sortiment zu nehmen.» Doch Kunden in Schweden hätten sie unbedingt gewollt. So sind Gurken inzwischen zu einem wichtigen Geschäftsfeld geworden - und werden auch wieder nach Deutschland verkauft. «Unglaublich, nicht wahr?», sagt Lavao und lacht.

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