Neue Zelltypen im Gehirn entdeckt

01.12.2015 - Deutschland

Wissenschaftler aus Tübingen und Houston haben zahlreiche neue Zelltypen im Gehirn identifiziert. Im Neocortex von erwachsenen Mäusen führten sie erstmals eine umfassende Zählung und Beschreibung der dort vorkommenden sogenannten Interneuronen durch. Sie fanden unter 2200 einzeln untersuchten Zellen insgesamt 15 Typen, von denen fünf bis dato unbekannt waren. Zusätzlich werteten die Forscher sämtliche Verbindungen und das Signalverhalten der Interneuronen aus. Dieser „Zensus“ erlaubt weitreichende Schlüsse auf die Art und Weise, wie im Gehirn komplexe Berechnungen durchgeführt werden: Im Neocortex sind die höheren Hirnfunktionen wie Wahrnehmung und Bewegung beheimatet, beim Menschen auch das Denken und die Sprache.

CIN

Mit Diagrammen wie diesem halten die Forscher fest, wie die einzelnen Neuronen mit ihren Nachbarn verbunden sind.

Wissenschaftler lieben Modelle. Sie träumen davon, die Wirklichkeit so exakt wie möglich nachzubilden – und zugleich so einfach wie möglich. Aber je komplexer der untersuchte Gegenstand, desto mehr muss man das Modell vereinfachen. Das Gehirn, diese vielleicht komplexeste Struktur des Universums, scheint sich der Modellbildung daher zu entziehen. Doch die Technik stößt mittlerweile in Bereiche vor, die die Nachbildung von Hirnfunktionen im Computer in greifbare Nähe rückt. Inzwischen befasst sich ein ganzer Bereich der Hirnforschung, die „Computational Neuroscience“ („berechnungsgestützte Neurowissenschaft“) damit, neuronale Netzwerke und ihren Aufbau zu verstehen und Computermodelle zur Nachbildung bestimmter Hirnfunktionen zu schaffen.

Diese Möglichkeiten machte sich nun eine Kooperation zwischen zwei Tübinger Vertretern dieser Zunft, Dr. Alexander Ecker und Bernsteinpreisträger Dr. Philipp Berens (beide Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften – CIN an der Universität Tübingen), und einem Forscherteam um Dr. Andreas Tolias (Baylor College of Medicine, Houston/Texas) zunutze. Während in Texas mit Hilfe fortgeschrittener Mikroskopier- und Schneidetechniken einzelne Nervenzellen aus dem Neocortex – einem Teil der Hirnrinde, der die höheren Hirnfunktionen beheimatet – von Mäusen isoliert wurden, analysierten die Tübinger Forscher die Daten.

Insgesamt wurden 2200 einzelne Zellen untersucht. Die Neurowissenschaftler sprechen von „Populationen“, die sie mit einem „Zensus“ erfassen – eine „Volkszählung“ im Gehirn sozusagen. Eine derart umfassende Untersuchung individueller Zellen war bisher nicht versucht worden. Bis vor Kurzem fehlten dazu sowohl die technischen Möglichkeiten als auch die der Analyse. Da bereits eine einzelne Nervenzelle ein hochkomplexes Gebilde ist, ist die Kategorisierung gleich einiger Tausend davon extrem aufwändig. Doch dem Forscherteam gelang es, Algorithmen zu entwickeln, die Zellen anhand ihrer Morphologie – ihrer Form und Beschaffenheit – 15 verschiedenen Typen zuordnen können: eine für die Forscher überraschend große Zahl.

Die untersuchten Interneurone sind Nervenzellen, die keine Verbindungen zu anderen Hirnarealen herstellen, sondern sich mit ihrer „Nachbarschaft“ zu komplexen Schaltkreisen vernetzen, die bisher wenig untersucht sind. Die Forscher vollzogen nun erstmals genau nach, welche der 15 Arten von Interneuronen mit welchen ihrer Nachbarn verbunden sind – „Konnektivität“ nennen sie die Verbindungseigenschaften von Nervenzellen. Die Forscher fanden Hinweise, dass die 15 Zelltypen sich drei Kategorien zuordnen lassen: Interneuronen, die nur mit ihresgleichen verbunden sind, Interneuronen, die nur einen anderen Zelltyp ansteuern (die sogenannten Pyramidalzellen), und solche, die mit allen Arten von Nachbarzellen Verbindungen eingehen.

Die Daten zur Konnektivität der Interneuronen können nun zur Erstellung von Computermodellen dienen. Wie immer streben die Forscher nach einem Modell, das die komplizierte Wirklichkeit möglichst vereinfacht, dabei aber noch aussagekräftig ist. Die Reduktion der 15 Typen auf drei Kategorien ist ein solcher Fall eines vereinfachten, aber aussagekräftigen Modells. Das ermöglicht weitgehende Schlüsse, so Philipp Berens: „Zum einen erlaubt uns so eine Arbeit, überhaupt zu verstehen, wie die Morphologie und die Konnektivität eines Zelltyps seine Funktion bestimmt. Zum anderen kann man sich fragen, ob diese Zelltypvielfalt für komplexe Berechnungen notwendig ist, oder ob es auch einfacher geht, bzw. wofür diese Vielfalt gut ist.“

Dazu gibt die nächste „Volkszählung“ vielleicht noch weitere Hinweise: „Vergleichende Studien zu anderen Hirnarealen und Spezies wären sehr interessant“, meint Alexander Ecker. „In Texas haben sie damit schon begonnen.“

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