Globale Medtech-Branche profitiert von Börsen-Boom und niedrigen Zinsen
Aber nur schwaches organisches Wachstum
Das Finanzierungsvolumen in dem im Juni endenden Zwölfmonatszeitraum beträgt fast 50 Milliarden US-Dollar (49,8 Milliarden US-Dollar) – und hat sich damit im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast verdoppelt. Da lag das Gesamtvolumen noch bei 28,1 Milliarden US-Dollar. Getrieben wurde diese Entwicklung insbesondere durch die historisch niedrigen Zinsen, die vor allem reifere Unternehmen für umfangreiche Fremdkapitalfinanzierungen (Kredite) nutzen konnten. Das hat alleine das Volumen an Kreditaufnahmen von 19,8 Milliarden US-Dollar auf 40,8 Milliarden US-Dollar hochschnellen lassen. Im Gegensatz dazu leiden viele Start-up-Unternehmen unter einer sich weiter verschlechternden Finanzierung durch Risikokapital.
Deutlich nachgelassen haben auf den ersten Blick die M&A-Aktivitäten: Das Volumen ging im Zwölfmonatszeitraum bis Ende Juni um 31 Prozent auf 58,4 Milliarden US-Dollar zurück. Allerdings verzerrt der Megadeal von Medtronic, die im Vorjahreszeitraum für 42,9 Milliarden US-Dollar Covidien kauften, die Statistik. Ohne diesen Deal und ohne Berücksichtigung entsprechender Megadeals aus 2015 (z.B. Danaher/ Pall; Becton Dickinson/CareFusion) steigt das Volumen im Jahr 2014/15 im Vergleich um robuste 13 Prozent.
Zu diesen Ergebnissen kommt der „Medizintechnik-Report 2015“ der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY (Ernst & Young).
Der Leiter des deutschen Life Science Centers von EY, Siegfried Bialojan, kommentiert: „Die niedrigen einstelligen Wachstumszahlen der Branche geben Anlass zur Sorge. Innovationen, die wirklichen Durchbruch bringen, sind selten – dabei wären sie wichtige Wachstumstreiber. Weil organisches Wachstum so schwer ist, versuchen viele Medizintechnikunternehmen durch Übernahmen bereits erfolgreiche Produkte in ihr Portfolio zu holen. Deswegen bleibt der M&A-Markt auf einem sehr hohen Niveau.“
Klaus Eichenberg, Geschäftsführer der BioRegio STERN Management GmbH, ist sich sicher: „Die Biotechnologie eröffnet der Medizintechnikbranche neue Geschäftsfelder und die Automatisierung ermöglicht die effiziente Herstellung ihrer Innovationen. Um zukünftiges organisches Wachstum zu sichern, muss daher diese Branche Biotechnologie, IT und Engineering verstärkt integrieren.“
Moderates Wachstum und Konsolidierung
Das Umsatzwachstum der Branche wurde vornehmlich getragen von den sogenannten Pure-Plays, also den Unternehmen, die sich nur auf die Medizintechnik konzentrieren. Ihr Umsatzwachstum betrug fünf Prozent auf 190,2 Milliarden US-Dollar. Bei den Mischkonzernen ging der Umsatz dagegen insgesamt sogar leicht zurück von 152,2 Milliarden US-Dollar auf 151,7 Milliarden US-Dollar. Das lag vor allem daran, dass sich große Mischkonzerne von Teilen ihrer Medizintechnik trennten. So ging der Medizintechnik-Umsatz bei Siemens um mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar (Verkauf des Hörgerätegeschäfts sowie der Sparte für „Hospital Information Systems“) und bei Johnson & Johnson um fast eine Milliarde US-Dollar (Verkauf der „Ortho Clinical Diagnostics“) zurück.
Die US-amerikanischen Medizintechnikkonzerne konnten ihre Umsätze deutlich stärker steigern als ihre europäischen Pendants. Während die Firmen diesseits des Atlantiks ihre Erlöse lediglich um einen Prozent auf 119,3 Milliarden US-Dollar steigern konnten, verzeichneten die Unternehmen jenseits des Atlantiks ein Umsatzwachstum um drei Prozent auf 222,5 Milliarden US-Dollar.
Auch die Zahl der Beschäftigten legte insgesamt nur moderat um zwei Prozent auf 678.600 zu. Die US-amerikanischen Unternehmen stockten noch zurückhaltender auf als die europäischen: in den USA stieg die Mitarbeiterzahl um ein Prozent auf 454.900, in Europa um vier Prozent auf 223.600.
Investitionen in Innovation weiter zunehmend
Dagegen zogen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung weiter an – 14,3 Milliarden US-Dollar und damit sechs Prozent mehr erhielten die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nach einem Zuwachs um sieben Prozent im Vorjahr. Damit sind die Mittel in dem Bereich seit 2009 jedes Jahr gestiegen – ausgehend von elf Milliarden US-Dollar beträgt der Zuwachs seitdem insgesamt rund ein Drittel. Das Tempo gaben die Unternehmen in den USA vor mit einem Wachstum um sieben Prozent. In Europa waren es im Vergleich dazu lediglich drei Prozent.
„Investitionen in Innovationen und vor allem die glaubhafte Vermittlung des Nutzens dieser Innovationen für Patienten, Kostenträger und Investoren sind für die Zukunft der Medizintechnikbranche entscheidend, gerade vor dem Hintergrund strengerer Vorschriften für den Markteintritt in den USA“, sagt Bialojan. „Die Branche wird sich nicht immer auf das derzeit noch positive Zinsumfeld verlassen können. Investoren wollen in Zukunft noch stärker von der Qualität der Innovationen überzeugt werden. Es muss sich allerdings erst zeigen, ob die höheren Ausgaben für Forschung und Entwick-lung tatsächlich ein Anzeichen für mehr Innovation sind oder ob Innovation einfach nur teurer wird.“
Börsengänge als wichtige Kapitalquelle
Neben der Verdoppelung der Fremdkapitalfinanzierung war insbesondere die Rekordsumme für IPOs in Höhe von 2,3 Milliarden US-Dollar eine sehr erfreuliche Nachricht für die Branche – eine Steigerung gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 57 Prozent.
„Die Medizintechnikbranche profitiert hierbei eindeutig vom äußerst robusten Börsenboom des Biotech-Sektors“, unterstreicht Bialojan. „Es wird entscheidend sein, wie das dadurch erzeugte Interesse des Kapitalmarkts an High-Tech-Entwicklungen insgesamt nachhaltig aufrechterhalten werden kann.“
Medizintechnik kann sich weniger Anteil an Venture Capital sichern
Die Mittel für Start-ups stagnieren dagegen seit Jahren unterhalb der Fünf-Milliarden-Dollar-Marke und gingen im untersuchten Zeitraum leicht um 2,45 Prozent auf 4,7 Milliarden Dollar zurück.
Dieser Trend erschwert es Start-ups im Anfangsstadium, Mittel zu erhalten. In einem Umfeld, in dem weltweit über alle Industrien hinweg so viel Venture Capital wie nie zuvor zur Verfügung steht, stagniert ausgerechnet der Venture-Capital-Markt für Medizintechnikunternehmen. 2014 wurden inustrieübergreifend 57 Milliarden US-Dollar an Venture Capital investiert – das sind mindestens 20 Milliarden US-Dollar mehr als in jedem Jahr nach dem Krisenjahr 2008. 2015 könnte das sogar noch übertreffen werden, wurden in der ersten Jahreshälfte doch bereits 36 Milliarden US-Dollar bereitgestellt.
In der Medizintechnik – aber auch im Health-Care-Sektor im Allgemeinen – kommt von dem Geld jedoch immer weniger an. 2014 konnte sich die Medizintechnikbranche nur noch 5,9 Prozent vom Venture-Capital-Kuchen sichern. Seit dem Jahr 2009, als die Branche noch 12,7 Prozent verbuchen konnte, ist der Anteil Jahr für Jahr gefallen.
„Investoren haben den Medizintechnikbereich nicht mehr so stark im Fokus und wenden sich wieder mehr dem zur Zeit attraktiveren Biotech-Sektor zu. Sie bleiben zwar aktiv, erhöhen aber die Mittel nicht. Gerade in den frühen Stadien haben Start-ups große Probleme, frisches Kapital zu erhalten. Die Folge: Wenige, vielversprechende Start-ups erhalten größere Teile vom Kuchen“, sagt Bialojan.
M&A-Markt profitiert von niedrigem Zinsniveau
Dass die Medizintechnikunternehmen Zugriff auf so viel Fremdkapital wie nie zuvor hatten, befeuerte auch den M&A-Markt: Die vier größten Kreditaufnahmen ermöglichten Zukäufe. Alleine Medtronic konnte sich zur Finanzierung der im Januar 2015 beendeten Übernahme von Covidien 17 Milliarden US-Dollar sichern. Weitere 18 Milliarden US-Dollar sicherten sich Becton Dickinson, Zimmer und Boston Scientific für Übernahmen. Damit vereinten die vier Unternehmen alleine über 85 Prozent des gesamten Fremdkapitals auf sich. Dennoch ging insgesamt die Zahl der M&A-Deals zurück: Von 180 im Zeitraum 2011/2012 auf 139 im Zeitraum 2014/15.
„Der M&A-Markt wurde zusätzlich getragen von den Bemühungen vieler Big Player, ihre Geschäftsausrichtung stärker zu fokussieren und sich deshalb von Teilen ihrer Medizintechnik zu trennen“, kommentiert Gerd Stürz, Leiter des gesamten Life Science Marktsegments bei EY in Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Insgesamt stand wieder viel Geld zur Verfügung – allerdings verteilt es sich auf immer weniger Akquisitionen. Käufer konzentrieren sich auf größere und teurere, dafür aber bereits reifere Unternehmen. Sie können im Idealfall mit bereits erfolgreichen Produkten zum Wachstum des Gesamtkonzerns beitragen.“