Wirkmechanismus geklärt: Contergan-Nachfolger wird zum Hoffnungsträger
Als Wirkstoff im Schlafmittel Contergan hat Thalidomid traurige Berühmtheit erlangt: Vor mehr als 50 Jahren kamen unzählige Babys mit Fehlbildungen zur Welt, weil ihre Mütter Contergan in der Schwangerschaft eingenommen hatten. Doch der Wirkstoff hat eine zweite Seite: Seit Ende der 1990er Jahre wird er erfolgreich gegen schwer zu behandelnde Krebserkrankungen des Knochenmarks wie das Multiple Myelom oder das Myelodysplastisches Syndrom (MDS) mit Verlust von Chromosom 5q eingesetzt. Wie genau die immunomodulatorischen Arzneistoffe Thalidomid und sein Nachfolger Lenalidomid wirken, hat Dr. Jan Krönke bei einem dreijährigen Aufenthalt am Brigham and Women’s Hospital/Harvard Medical School und an der Ulmer Universitätsklinik für Innere Medizin III erforscht. Ihre neuesten Erkenntnisse zur Wirkweise beim MDS haben die Wissenschaftler um Krönke und Professor Benjamin L. Ebert in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlicht.
Anzeichen einer Anämie, Blutungen vom Zahnfleisch bis zum Magen-Darmtrakt sowie häufige Infektionen: Diese Symptome können auf das Myelodysplastische Syndrom hinweisen, aus dem sich schlimmstenfalls eine akute Leukämie entwickelt. Der Arzneistoff Lenalidomid verbessert den Zustand vieler Patienten. Doch bis vor rund einem Jahr war die Wirkweise von Lenalidomid und seiner Analoga (Thalidomid, Pomalidomid) völlig unbekannt: Jan Krönke und seine Forscherkollegen konnten 2014 nachweisen, dass der Wirkstoff an die so genannte Cereblon Ubiquitin-Ligase bindet – dabei handelt es sich um die „Protein-Müllabfuhr“ der Zelle. So werden die Eiweiße Ikaros und Aiolos, von denen beispielsweise die Krebszellen des Multiplen Myeloms abhängen, gezielt abgebaut.
Aber wie wirkt das Medikament beim Myelodysplastisches Syndrom, bei dem nur eine Kopie des Chromosoms 5q vorhanden ist? Mit Proteinanalysen, molekularbiologischen Untersuchungen und im Mausmodell haben die Forscher nach weiteren Substraten der Cereoblon Ubiquitin Ligase gesucht, die durch Lenalidomid reguliert werden.
Das Ergebnis: Der Arzneistoff bewirkt die gezielte Markierung und den Abbau des Proteins Casein Kinase 1A (CK1A) über die Cereblon Ubiquitin Ligase. Da das CK1A-Gen auf dem verlorenen Chromosom 5q liegt, verfügen die MDS-Zellen ohnehin über geringe Mengen des fraglichen Proteins und sind somit besonders empfindlich gegenüber Lenalidomid. „Demnach nutzt Lenalidomid gezielt den Verlust eines Gens in den Krebszellen aus, um diese zu töten“, erklärt der Emmy Noether-Nachwuchsgruppenleiter Krönke.
Die Gruppe konnte zudem nachweisen, dass ausschließlich Lenalidomid – und nicht die Analoga – den gewünschten Effekt bei der Knochenmarkserkrankung hat. Dies ist bedeutend für die Entwicklung neuer, ähnlich wirkender Medikamente, die gezielt krankheitsrelevante Proteine abbauen. Denn offenbar verändern kleinste chemische Modifikationen die Wirkung des Ausgangs-Arzneistoffs Thalidomid.
Im Zuge ihrer Untersuchungen hat die deutsch-amerikanische Forschergruppe erstmals Experimente mit Lenalidomid in Mauszellen durchgeführt. Zuvor war dies unmöglich, da Mäuse natürlicherweise resistent gegenüber den Wirkungen von Thalidomid/Lenalidomid sind. So hatten auch Tests an Nagern in den 50-er Jahren keine Hinweise auf die fatalen Nebenwirkungen von Contergan ergeben. Durch genetische Veränderungen am Zielprotein Cereblon gelang es nun, die Mauszellen gegenüber Lenalidomid zu sensitivieren, was künftig weitere Untersuchungen im Mausmodell ermöglicht.
Insgesamt konnten die Autoren, darunter auch der Ulmer Heisenberg-Professor Lars Bullinger (ebenfalls Universitätsklinik für Innere Medizin III), erstmals den Wirkmechanismus des Thalidomid-Analogons Lenalidomid bei der Knochenmarkserkrankung MDS zeigen. Außerdem haben sie einen Weg gefunden, diese Substanzen erstmals in Mauszellen zu untersuchen. Ihre Arbeiten wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über das Emmy Noether-Programm von Jan Krönke und den Sonderforschungsbereich 1074 „Experimentelle Modelle und klinische Translation bei Leukämien“ gefördert. Weiterhin unterstützte das Else Kröner Fresenius Kolleg Ulm und es bestand eine Kooperation mit der Firma Celgene, Hersteller von Thalidomid und Lenalidomid.