Riechhirn wehrt eigenständig Viren ab
Riechkolben als Außenstelle des Immunsystems
Wissenschaftler vom Institut für Experimentelle Infektionsforschung am TWINCORE haben den Weg des Vesikuläre Stomatitis Virus (VSV) und die Abwehrstrategie des Gehirns erforscht - und dabei entdeckt, dass Gehirnzellen Multitalente sind, die bei einem Virenangriff schnell die Rolle wechseln und den Signalstoff Interferon-beta (IFN-beta) produzieren. IFN-beta ist ein Protein, das die Ausbreitung der Viren schnell bremst und weitere Reaktionen des Immunsystems einleitet. Es ist der erste und meist auch entscheidende Abwehrmechanismus gegen Viren.
"VSV ist ein weniger gefährlicher Verwandter des Tollwut-Virus und kann ebenfalls das zentrale Nervensystem infizieren. Damit können wir gut erforschen, was bei einer Virusinfektion im Gehirn geschieht", sagt Claudia Detje, Wissenschaftlerin am Institut für Experimentelle Infektionsforschung. Diese Viren sind besonders geschickt darin, den Weg ins Gehirn zu finden und bei VSV ist für eine effiziente Abwehr besonders die Bildung von IFN-beta entscheidend. "Gerät das Virus in den Blutkreislauf, ist zunächst kein Anzeichen einer Infektion zu erkennen", sagt Claudia Detje. "Bei einer Tröpfcheninfektion - über die Nase - führt das eigentlich harmlose Virus ohne IFN-beta zu einer schweren Gehirnentzündung. Ein Organismus, der IFN-beta fehlerfrei bilden kann, wehrt das Virus auch bei einer Tröpfcheninfektion erfolgreich ab." Der Grund: Im Blut stehen diverse andere Interferonvarianten parat, die das IFN-beta ersetzen können. Im Gehirn gibt es diese Mehrfachabsicherung aber offenbar nicht.
Nur wie kommt das Virus ausgerechnet durch die Nase ins Gehirn - und wie wehrt sich ein intaktes Gehirn gegen das Virus? Wie jedes Sicherheitssystem hat auch das des Gehirns seine Schwachstellen. Die Lücke, die die Viren nutzen, ist unser Geruchssinn. Die Viren infizieren den Riechnerv und wandern in ihm zum Gehirn. Die einzelnen Riechfäden des Nervs laufen durch eine durchlöcherte Knochenplatte des Schädels - die sogenannte Siebplatte - zum Riechkolben. Der gibt die einlaufenden Signale an das Gehirn zur Verarbeitung weiter. Genau an dieser Lücke in der Blut-Hirn-Schranke, dem Übergang vom Riechnerv zum Riechkolben, wird das IFN-beta produziert, um die Viren abzufangen, die den Riechnerv hinaufgewandert sind. Dass das Gehirn tatsächlich eigenständig IFN-beta produziert, haben die Wissenschaftler aus Hannover mit sogenannten Reportermäusen zeigen können. Deren Gewebe beginnt zu leuchten, wenn es Interferon-beta bildet, und die Wissenschaftler können den Infektionsverlauf berührungslos verfolgen, während die Tiere unter einer Spezialkamera schlafen. "Wir konnten sehen, dass bei einer Infektion über das Blut hauptsächlich die Lymphknoten aktiv werden und IFN-beta bilden. Bei einer Tröpfcheninfektion beginnt zusätzlich der Kopf im Bereich des Riechkolbens zu leuchten", berichtet Claudia Detje. "Das ist der Beweis, dass das Riechhirn sich eigenständig gegen Virusinfektionen zur Wehr setzen kann."
Eine besondere Rolle spielt Interferon-beta auch bei der Multiplen Sklerose. Die Autoimmunerkrankung ist durch Entzündungen des Gehirns gekennzeichnet und kann mit IFN-beta behandelt werden. "Die Frage, die wir uns für die Zukunft stellen: Ist es dann eventuell auch möglich, eine Enzephalitis, bei der die Abwehrreaktion des Riechhirns nicht ausgereicht hat, mit Interferon-beta-Gaben zu behandeln?", schließt Claudia Detje.
Originalveröffentlichung
Detje CN et al.; Upon intranasal vesicular stomatitis virus infection, astrocytes in the olfactory bulb are important interferon Beta producers that protect from lethal encephalitis. J Virol. 2015 Mar 1;89(5):2731-8