Natur-Wirkstoffe zerkleinern und verstehen
Die Medizin driftet auf ein grosses Problem zu: Es gibt immer mehr Bakterien, gegen die kein bekanntes Antibiotikum mehr hilft. Ärzte brauchen dringend neue Mittel gegen solche multi-resistenten Krankheitserreger. Um dem Problem zu begegnen, wendet sich die Pharmaforschung wieder der Quelle zu, aus der die meisten unserer Arzneimittel ursprünglich kommen: der Natur.
Es sind zwar Hunderttausende aus der Natur stammende Wirkstoffe bekannt, wie sie genau wirken, ist bei den meisten jedoch nicht klar. Ein Forscherteam unter Beteiligung der ETH Zürich hat nun eine computerbasierte Methode entwickelt, um den Wirkmechanismus solcher Naturstoffe vorherzusagen. Damit hoffen die Wissenschaftler auf neue Ideen, um Arzneistoffe zu generieren. «Natürliche Wirkstoffe sind meist sehr grosse Moleküle, die man chemisch oft nur in langwierigen Prozessen synthetisieren kann», sagt Gisbert Schneider, Professor für Computergestütztes Wirkstoffdesign am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich. Wenn man verstehe, wie genau ein Naturstoff wirke, könne man kleinere, einfachere Moleküle entwerfen, die sich leichter synthetisieren lassen. Sobald ein Stoff chemisch synthetisierbar wird, lässt er sich auch für den medizinischen Einsatz optimieren.
Um den Wirkmechanismus zu verstehen, untersuchen Forscher, mit welchen Bestandteilen eines Erregers der Naturstoff wechselwirkt, um beispielsweise sein Wachstum zu hemmen. Bisher dienten dazu aufwändige Laborversuche, und meistens erkannten die Wissenschaftler dabei nur den stärksten Effekt eines Stoffs. Diese eine Wechselwirkung allein kann aber oft nicht die gesamte Wirkung eines Naturstoffs erklären. «Auch schwächere Wechselwirkungen mit weiteren Zielstrukturen können zur Gesamtwirkung beitragen», erklärt Schneider.
210.000 Naturstoffe analysiert
Mithilfe der computerbasierten Methode konnten die Forscher um Gisbert Schneider nun eine Vielzahl möglicher Zielstrukturen von 210.000 bekannten Naturstoffen vorhersagen. Die Software arbeitet dabei mit einem Trick: Anstatt von der kompletten, oft komplexen chemischen Struktur der natürlichen Stoffe auszugehen, zerlegt sie diese in kleine Fragmente. Diese benutzt der Algorithmus als Grundlage, um chemische Datenbanken nach möglichen Interaktionspartnern zu durchforsten.
Die Fragmente wählt der Algorithmus nicht zufällig, sondern nach dem Prinzip der sogenannten Retrosynthese. Das Konzept stammt aus der organischen Chemie: Wenn ein Chemiker eine Substanz synthetisieren will, überlegt er, über welche Zwischenmoleküle er ans Ziel kommt. «Wir wollten die Moleküle in bedeutungsvolle Grundbausteine zerlegen», erklärt Schneider. Daher errechnet die Software, aus welchen Einzelbausteinen sich die Substanz theoretisch synthetisieren liesse.
«Indem wir die teils grossen Moleküle am Computer in Einzelbausteine zerlegen, finden wir heraus, welche Bestandteile essentiell für die Wirkung sein könnten», sagt Schneider. So liessen sich simplere Moleküle entwerfen, die Chemiker auch tatsächlich herstellen könnten, anstatt sie mühsam aus der natürlichen Quelle zu isolieren.
Gemeinsamkeiten entdeckt
Die Forschenden prüften ihre Methode im Detail an einem aus Myxobakterien stammenden Wirkstoff, der das Wachstum von Tumorzellen bremst: Archazolid A. Von dieser Substanz ist eine Zielstruktur bekannt. Es gibt jedoch Hinweise, dass auch die Interaktion mit weiteren Zellfaktoren eine Rolle für die Anti-Tumor-Wirkung spielen muss. Welche diese anderen Faktoren sind, konnten die Forschenden nun mithilfe der Software identifizieren und einige davon anschliessend in Laborversuchen bestätigen. Dabei stellten sie überraschend fest, dass die Wirkweise des Archazolid A derjenigen eines viel kleineren und einfacheren Moleküls ähnelt, der Arachidonsäure, einer ungesättigten Fettsäure. «Das Beispiel zeigt, dass sich eine gewünschte Wirkung oft auch mit einfacheren Substanzen erreichen lässt», sagt Schneider. Letztere könnten wiederum als Inspiration für neue Wirkstoffe dienen.
«Die Analyse ist noch nicht perfekt, einige der vorgeschlagenen Wechselwirkungen konnten wir in biochemischen Versuchen nicht bestätigen», räumt Schneider ein. Ziel sei es daher, die Vorhersagekraft der Software noch weiter zu optimieren. Aber schon jetzt reduziert sich mit Hilfe des Algorithmus die Zahl der möglichen Kandidaten, mit denen eine Substanz interagieren könnte. Und damit den Aufwand für anschliessende Laborversuche, um die tatsächlichen Wechselwirkungen experimentell zu bestätigen. So wird es künftig leichter, den Wirkmechanismus natürlicher Substanzen zu entschlüsseln.
Um dieses computerbasierte Werkzeug zur grossflächigen Analyse von Naturstoffen zu entwickeln, brauchte es eine Bündelung von spezifischen Expertisen aus den Bereichen Chemie, Pharmazie, Biologie und Informatik, betont Schneider. Die ETH-Forschenden arbeiteten eng mit Wissenschaftlern der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Goethe-Universität Frankfurt und des Helmholtz Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland zusammen.