Grippeviren tarnen sich als Abfall

27.10.2014 - Schweiz

Weil sich das Grippe-Virus als Abfall tarnt, zerreisst das Entsorgungssystem der Zelle seine Hülle – die genetische Information kommt frei. Erstmals zeigt ein Forschungsteam unter ETH-Leitung wie dies genau abläuft.

Für ihre eigene Vermehrung brauchen Viren zwingend die Zellmaschinerie. Wie die Erreger in Zellen eindringen, ist bei etlichen Virenarten mittlerweile gut erforscht. Nur ungenügend bekannt ist hingegen, wie im Lauf der Infektion die Virenhülle geknackt wird, damit das Erbgut des Virus' freikommt. Ein Forschungsteam unter der Führung der ETH Zürich hat den Mechanismus nun beim Grippevirus aufgeklärt – und dabei Überraschendes zu Tage gefördert.

Die Infektion mit einem Virus läuft stets nach einem ähnlichen Schema ab. Der Erreger muss versuchen, in die Wirtszellen hineinzukommen, um deren Replikations- und Proteinbildungsmaschinerie für die eigene Vervielfältigung zu nutzen. Die erste Grenze, die ein Virus überwinden muss, ist die Zellmembran.

Dazu dockt das Virus auf der Oberfläche an und signalisiert der Zelle, dass es in ihr Inneres aufgenommen werden will. Die Zelle schnürt in der Folge ein Bläschen ab. Dieses enthält das Virus und transportiert es in Richtung Zellkern. Auf dieser Reise sorgt die Zelle dafür, dass die Lösung im Bläschen immer saurer wird. Der saure pH-Wert ermöglicht schliesslich die Verschmelzung der äusseren Virenhülle mit der Bläschenmembran.

Kapsid als Knacknuss

Das ist aber erst die halbe Miete. Denn das Grippevirus wie auch andere RNA-Viren haben ein weiteres Hindernis zu überwinden, ehe ihr genetischer Code freikommt: Die wenigen RNA-Stücke, die das Genom des Grippevirus ausmachen, sind in einem sogenannten Kapsid verpackt. Dieses stellt während der Übertragung von Zelle zu Zelle die Stabilität des Virus' sicher und schützt die Virusgene vor frühzeitigen Abbau.

Bisher hat man kaum verstanden, wie das Kapsid des Grippe-Virus' geknackt wird. Ein Team von Forschern der ETH Zürich, des Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel und dem Biological Research Center in Szeged (Ungarn) hat nun eine Antwort auf diesen zentralen Aspekt der Grippeinfektion gefunden: Das Kapsid des Influenza-A-Virus' imitiert einen Knäuel aus Proteinabfällen, dem sogenannten Aggresom, das entwirrt und entsorgt werden soll. Dadurch getäuscht unterstützt der zelleigene Abfallbeseitigungskomplex das Knacken des Kapsids.

So trägt das Virus-Kapsid molekulare Abfallmarken der Zelle auf seiner Oberfläche. Diese Abfallmarke namens Ubiquitin ruft ein Enzym auf den Plan, eine sogenannte Histon-Deacetylase (HDAC6), die an Ubiquitin bindet. HDAC6 bindet gleichzeitig Gerüst- und Motorproteine, die durch Zug den vermeintlichen «Abfallkomplex» auseinander zerren und der Entsorgung zuführen. Durch diese mechanische Arbeit zerreisst das Kapsid, sodass das genetische Material des Virus' frei kommt. Dank ihrer geringen Grösse passen die RNS-Erbmoleküle durch die Poren des Zellkerns. Dort angelangt beginnt die Zelle, die Viren-Gene zu vervielfältigen und neue Virenproteine zu bauen.

Getäuschte Abfallentsorgung

Für die Forscher war dieser Mechanismus eine grosse Überraschung. Das Abfallentsorgungssystem einer Zelle ist zentral, um Proteinabfall zu eliminieren. Kann die Zelle diese Müll-Eiweisse, die aufgrund von Hitze oder Stress entstehen, nicht schnell genug entsorgen, bildet der Abfall Aggregate. Um die Aggregate loszuwerden, mobilisiert die Zelle ihre Maschinerie, die Klumpen in Einzelteile zerlegt und abbaut. Genau diesen Mechanismus nützt das Grippevirus aus.

Überrascht waren die Forscher jedoch auch darüber, wie lange es dauert, bis sich das Kapsid öffnen lässt: rund 30 Minuten. Die gesamte Infektionsdauer vom Andocken auf der Zelloberfläche bis zum Eintritt der RNS in den Zellkern dauert zwei Stunden. «Der Vorgang dauert länger und ist komplexer, als wir erwartet haben», sagt Yohei Yamauchi, Postdoc bei ETH-Professor Ari Helenius, der HDAC6 aufspürte, und zwar mit einem Screeningverfahren von menschlichen Proteinen, die er daraufhin prüfte, ob das Virus sie braucht. Der Erstautor der Studie, Indranil Banerjee, bestätigte in seiner Folgestudie schliesslich, dass HDAC6 tatsächlich für die Kapsidöffnung zentral ist.

Die endgültige Antwort erhielten die Forschenden dank eines Mausmodells. Fehlte einer Mauslinie das Protein HDAC6, so war die Grippeinfektion viel schwächer: Den Grippeviren fehlte der zentrale Verankerungspunkt für die Anbindung an das Abfallentsorgungssystem. Dennoch ist das Fehlen von HDAC6 kein vollständiger Schutz.

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