Haben Nervenzellen wenig zu sagen, werden sie deutlicher

Nervenzellen verstärken ihre Synapsen, um nach einem Inputverlust aktiv zu bleiben

17.10.2013 - Deutschland

Das Gehirn ist extrem wandlungsfähig – und doch auch konservativ. So könnten die Ergebnisse zusammengefasst werden, die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried bei München in Zusammenarbeit mit Kollegen am Friedrich Miescher Institut in Basel und der Ruhr-Universität in Bochum nun veröffentlicht haben. Sie konnten zeigen, dass Nervenzellen im Gehirn ihre eigene Erregbarkeit so regeln, dass die Aktivität des Netzwerks möglichst konstant bleibt. Selbst bei starken Änderungen, wie nach dem vollständigen Wegfall der Informationen aus einem Sinnesorgan, sind nach nur 48 Stunden die zunächst fast verstummten Nervenzellen wieder ähnlich aktiv wie vor dem Ausfall. Das so erreichte mittlere Aktivitätsniveau ist eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Gehirn und die Neuvernetzung von Nervenzellen – eine essenzielle Fähigkeit zum Beispiel für die Regeneration nach Verletzungen im Gehirn oder den Sinnesorganen.

© MPI für Neurobiologie/Hübener

Auch wenn Nervenzellen im visuellen Cortex von ihrer Hauptinformationsquelle abgeschnitten werden, kehrt ihre Aktivität innerhalb von 48 Stunden auf ein ähnliches Niveau wie vor der Störung zurück. Unter dem Mikroskop leuchten gerade aktive Zellen dank eines eingefügten Kalziumindikators auf.

Nervenzellen kommunizieren in Form von elektrischen Signalen. Diese geben sie über spezielle Kontaktstellen, die Synapsen, an Nachbarzellen weiter. Soll eine neue Information verarbeitet werden, können die Zellen neue Synapsen zu ihren Nachbarzellen aufbauen oder bestehende Kontakte verstärken. Damit Vergessen möglich ist, sind diese Prozesse reversibel. Das Gehirn befindet sich somit ständig im Umbau, durch den einzelne Nervenzellen jedoch weder zu aktiv noch zu ruhig werden dürfen. Ein gleichbleibender Aktivitätslevel ist das Ziel, denn eine langfristige Übererregung der Nervenzellen kann zu Schäden im Gehirn führen. Auch zu wenig Aktivität ist nicht gut. „Nur wenn die Zellen sozusagen "wach" sind, also ein Mindestmaß an Aktivität zeigen, können sie sich neu mit ihren Nachbarzellen vernetzen“, erklärt Mark Hübener, der Leiter der nun erschienenen Studie. Das internationale Forscherteam konnte nun erstmals zeigen, dass das Gehirn selbst massive Änderungen der Nervenzellaktivität innerhalb von zwei Tagen kompensiert und zu einem ähnlichen Aktivitätslevel wie vor der Änderung zurückkehren kann.

Bisher gaben nur Zellkulturen Hinweis auf diese erstaunliche Fähigkeit des Gehirns. Auch blieb unklar, auf welche Weise Nervenzellen ihre eigene Erregbarkeit in Relation zur Aktivität des gesamten Netzwerks regulieren können. Der Antwort auf diese Frage kommen die Wissenschaftler nun einen großen Schritt näher. In ihrer Studie untersuchten sie den visuellen Cortex kürzlich erblindeter Mäuse.

Wie erwartet, aber bisher noch nie gezeigt, sank die Aktivität der Nervenzellen in diesem Bereich nicht auf null, sondern nur auf die Hälfte des ursprünglichen Wertes. „Allein das war ein erstaunliches Ergebnis, denn es zeigt, in welchem Ausmaß der visuelle Cortex auch Informationen aus anderen Hirnbereichen verarbeitet“, erklärt Tobias Bonhoeffer, der bereits seit vielen Jahren mit seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie die Vorgänge im visuellen Cortex erforscht. „Richtig spannend wurde es jedoch, als wir diesen Bereich über die nächsten Stunden und Tage weiterbeobachteten.“

Durch das Mikroskop konnten die Wissenschaftler sozusagen "live" beobachten, wie die Nervenzellen im visuellen Cortex wieder aktiv wurden. Bereits nach wenigen Stunden war deutlich zu erkennen, dass die Kontaktstellen der betroffenen Zellen zu Nachbarzellen zunehmend größer wurden. Werden Synapsen größer, dann werden sie auch stärker – Signale werden schneller und effektiver an andere Zellen weitergegeben. Durch diese Kontaktverstärkung kehrte die Aktivität des betroffenen Zellverbands nach 24 bis 48 Stunden zu seinem Ausgangswert zurück. „Vereinfacht dargestellt hatten die Zellen durch den Wegfall des visuellen Inputs nicht mehr so viel zu sagen – doch wenn sie nun etwas sagten, dann taten sie es mit Nachdruck“, veranschaulicht Mark Hübener.

Durch das gleichzeitige Verstärken aller Synapsen der betroffenen Nervenzellen können auch größere Ausreißer in der Nervenzellaktivität in erstaunlich kurzer Zeit wieder normalisiert werden. Das auf diese Weise erreichte relativ gleichbleibende Aktivitätsniveau ist eine essenzielle Voraussetzung für ein gesundes, anpassungsfähiges Gehirn.

Originalveröffentlichung

Tara Keck, Georg B. Keller, R. Irene Jacobsen, Ulf T. Eysel, Tobias Bonhoeffer, Mark Hübener Synaptic scaling and homeostatic plasticity in the mouse visual cortex in vivo Neuron, 16 October 2013

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