Gelähmte lassen ihre Pupillen sprechen

Marburger Neurophysiker übersetzen unbewusste Pupillenveränderungen von locked-in Patienten in Antworten

07.08.2013 - Deutschland

Patienten, die anderweitig nicht in der Lage sind, Kontakt mit ihrer Umwelt aufzunehmen, können ja/nein-Fragen mit Hilfe einer einfachen Vorrichtung bestehend aus einem Laptop und einer Kamera beantworten, indem lediglich ihre Pupillengröße gemessen wird. Die Methode stützt sich auf die Veränderungen der Pupillengröße beim Menschen, die natürlicherweise durch geistige Anstrengung hervorgerufen wird. Sie erfordert keine Spezialausrüstung oder aufwendiges Training.

Die neue Methode werde vermutlich nicht nur den Patienten und Patientinnen die Kommunikation erleichtern, deren Bewegungsfähigkeit stark beeinträchtigt sei, sondern möglicherweise auch dazu beitragen, den Zustand von Patienten zu erfassen, deren Bewusstseinsgrad unbekannt sei, erklärte das Forscherteam von der Philipps-Universität Marburg, der Universitätsklinik Lüttich, dem Allen Institut in Seattle, der Universität Melbourne sowie dem Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung.

„Es ist bemerkenswert, dass ein scheinbar so einfaches physiologisches System wie das der menschlichen Pupille über eine so große Bandbreite an Reaktionen verfügt, dass es eine so komplexe Aufgabe wie Kommunikation erfüllen kann“, unterstreicht der Marburger Neurophysiker Professor Dr. Wolfgang Einhäuser-Treyer, Mitautor der Studie. Dabei sei es nicht einmal notwendig, Kommunikationshilfsmittel einzusetzen, die der bewussten Steuerung unterliegen, wie zum Beispiel Blinzeln. Die unbewusste Pupillenreaktion ermögliche Kommunikation somit insbesondere Menschen, die der Steuerungsmöglichkeit beraubt seien.

Das Forscherteam forderte sechs gesunde Probanden in je 30 unterschiedlichen Frageszenarien auf, ein mathematisches Problem nur dann zu lösen, wenn die richtige Antwort auf eine ja/nein-Frage auf dem Bildschirm erschien. Die mentale Anstrengung, die die Rechenaufgabe hervorrief, verursachte automatisch eine Pupillenvergrößerung. Diese konnten die Wissenschaftler mittels einer Kamera messen und somit in eine korrekte Antwort auf Fragen wie „Sind Sie 20 Jahre alt?“ übersetzen. Dabei spielte es keine Rolle, ob das richtige Ergebnis errechnet wurde. Die Mathe-Aufgabe diente den Probanden lediglich als Möglichkeit, aktiven Einfluss auf ihre geistige Anstrengung und somit auf ihre Pupillenveränderung zu nehmen.

Als nächstes testete das Forscherteam den Pupillenreaktionsalgorithmus an sieben Probanden mit "typischem" Locked-in-Syndrom, die durch einen Gehirnschlag geschädigt waren. In einer Vielzahl von Fällen konnten sie anhand der Pupillenreaktionen eine Antwort erkennen. Weiterhin konnte selbst für einen Patient in einem minimalen Bewusstseinszustand (minimal conscious state), der zu keiner offensichtlichen Kommunikation fähig war, gezeigt werden, dass er die Aufgaben zu lösen versuchte.

„Es hat uns beeindruckt, dass unsere Methode bei gesunden Probanden fast perfekt funktionierte und dann direkt auf hirngeschädigte Patienten übertragen werden konnte, ohne dass diese Training benötigten oder wir die Parameter anpassen mussten“, erklärte Einhäuser-Treyer.

Zwar benötige die Methode im Hinblick auf Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit noch Nachbesserungen, dennoch äußerte sich der Neurophysiker zuversichtlich, dass diese technischen Hürden leicht genommen werden könnten. „Die Messungen der Pupillenveränderungen können bereits einen wichtigen Beitrag zum Kommunikationsvermögen von Patienten leisten, die keine andere Option haben“, betonte er: „Für Patienten mit verändertem Bewusstseinszustand – zum Beispiel im Koma oder Wachkoma – bedeutet jede Art von Kommunikation eine substantielle Verbesserung und damit einen Zuwachs an Lebensqualität.“ Andere Methoden, die direkte Kommunikation durch Gehirnaktivität anstreben (sogenannte Brain-Computer-Interfaces, BCIs) wie die Elektroenzephalografie (EEG), welche die elektrische Aktivität des Gehirns durch Aufzeichnung der Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche misst, seien in der Anwendung komplizierter. Die in Marburg entwickelte Methode sei einfach einzusetzen und benötige keine kostenintensive Spezialausrüstung, sondern lediglich Kamera und Laptop.

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