Die neurobiologische Konsequenz des Räuberns oder Grasens

Tübinger Forscher vergleichen die Verschaltungen im Nervensystem zweier Wurmarten

21.01.2013 - Deutschland

Forscher um Ralf Sommer vom Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie haben erstmals neuronale Korrelate für unterschiedliche Verhaltensweisen nachgewiesen, indem sie die Muster der synaptischen Verbindungen, die sogenannten Konnektome, in zwei nahrungsökologisch unterschiedlichen Wurmarten miteinander verglichen haben. Sie verglichen das Schlund-Nervensystem von Caenorhabditis elegans, einem reinen Bakterienfresser, mit dem von Pristionchus pacificus, einem fakultativ räuberischen Allesfresser, und entdeckten große Unterschiede in der Verschaltung der Neurone.

Eine überaus spannende Frage ist, inwieweit sich bestimmte Verhaltensweisen in den synaptischen Verschaltungen zwischen Nervenzellen widerspiegeln. Die Beantwortung dieser Frage bedarf eines vergleichenden Ansatzes, welcher bisher selbst bei einem so überschaubaren Organismus wie dem Fadenwurm an technischen Beschränkungen bei der Präparation sowie der Auswertung der umfangreichen Datenmengen scheiterte. Dan Bumbarger und seine Kollegen haben sich das vom Körper-Nervensystem relativ unabhängige, in sich geschlossene Pharynx-Nervensystem von P. pacificus und C. elegans vorgenommen, das bei beiden Arten aus genau 20 Nervenzellen besteht. Diese 20 Nervenzellen steuern die Kontraktionen der Schlundmuskulatur, durch die die Nahrung aufgenommen und für die Verdauung im Darm vorbereitet wird.

Bumbarger fertigte Ultradünnschnitte von zwei Pristionchus-Exemplaren an und verglich Zahl und Lage der Synapsen mit den bereits bekannten Daten von C. elegans. Trotz der überschaubaren Größe eines Nematoden nahmen Präparation und Auswertung der beiden Exemplare über drei Jahre in Anspruch: Jede der rund 150 Mikrometer langen Pharynx-Regionen ergab über 3000 Schnitte, die einzeln unter dem Elektronenmikroskop ausgewertet werden mussten.

Die umfangreiche Arbeit lieferte zunächst ein erstaunliches Ergebnis: „Jede der 20 Nervenzellen von Pristionchus pacificus lässt sich aufgrund ihrer Form und ihrer Position genau einer Partnerzelle bei Caenorhabditis elegans zuordnen“, erklärt der Wissenschaftler, „und das, obwohl sich die Entwicklungslinien der beiden Wurmarten bereits vor über 200 Millionen Jahren getrennt haben und die Tiere sich in ihrem Fressverhalten und in der Anatomie ihrer Mundregion deutlich voneinander unterscheiden.“ Denn während C. elegans sich ausschließlich von Bakterien ernährt, kann P. pacificus bei Nahrungsknappheit zum Räuber werden und andere Würmer als Nahrungsquelle nutzen.

Diese Unterschiede finden sich auch in der Zahl und Position der Synapsen, mit denen die Nervenzellen untereinander und mit anderen Zelltypen in Kontakt stehen. Während bei C. elegans nur 9 von 20 Nervenzellen so genannte Motoneurone sind, die über ihre synaptischen Kontakte vornehmlich Muskelzellen aktivieren, sind es bei P. pacificus 19; lediglich eine Nervenzelle fungiert ausschließlich als Interneuron, das der Verschaltung der Nervenzellen untereinander dient. „Das lässt auf tiefgreifende Unterschiede im Informationsfluss schließen“, sagt Ralf Sommer. Offenbar sei die Bewegungsregulation bei P. pacificus wesentlich komplexer – ein Befund, der gut mit dem variablen Fressverhalten des räuberischen Wurms korreliert

Mithilfe zum Teil neu entwickelter bioinformatischer Methoden verglichen die Tübinger auch die Relevanz einzelner Nervenzellen und Schaltstellen für das gesamte Netzwerk. Dabei zeigte sich, dass zwei Nervenzellen im vorderen Schlundbereich bei P. pacificus deutlich an Bedeutung gewonnen haben: Sie sind für die Steuerung der Muskulatur des bei Pristionchus mit Zähnen besetzten Mundes zuständig. „Die vordere Mundpartie mit den Zähnen ist vor allem während eines räuberischen Angriffs sehr aktiv“, erläutert Sommer, “nicht hingegen beim Fressen von Bakterien.“ Bei C. elegans dagegen, dem Zähne völlig fehlen, wirken diese beiden Nervenzellen ausschließlich als Interneurone. In den hinteren Schlund-Abschnitten gibt es ebenfalls auffallende Unterschiede. Dort besitzt C. elegans eine muskuläre Raspelplatte, mit deren Hilfe die ausschließlich bakterielle Nahrung zerkleinert wird. Bei P. pacificus, der keine Raspelplatte besitzt, werden die entsprechenden Muskelzellen zum Teil gar nicht von Motoneuronen innerviert.

„Die synaptischen Verschaltungsmuster spiegeln die grundlegenden Unterschiede im Fressverhalten von P. pacificus und C. elegans somit sehr gut wider“, resümiert Ralf Sommer. Ein derart deutliches Ergebnis hatte der Max-Planck-Direktor selbst nicht unbedingt erwartet. Denn andere Forschungsarbeiten an sehr viel einfacheren Verschaltungen – etwa bei der Meeresschnecke Aplysia – deuteten darauf hin, dass Verhaltensänderungen nicht immer mit Änderungen an der Zahl und Lage der Synapsen einhergehen müssen. Unterschiede in den physiologischen Eigenschaften der Nervenzellen oder in der Modulation durch Neurotransmitter können in manchen Systemen hierfür durchaus ausreichen.

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