Die lange Geschichte der Fettsucht
Übergewicht und Fettsucht haben Mediziner zu allen Zeiten beschäftigt. Welche Erklärungen sie im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit für das überschüssige Körperfett fanden und wie ihre Behandlung aussah, das hat der Würzburger Medizinhistoriker Professor Michael Stolberg untersucht.
Timaeus von Güldenklees Patient hatte ein ernstes Problem: Der 37-Jährige war so dick, dass er ohne Hilfe nicht mehr auf sein Pferd steigen konnte. Außerdem litt er unter ständiger Atemnot. Einem Buchhändler ging es ähnlich: Wegen seines Übergewichts war er nicht mehr in der Lage Treppen zu steigen. Von Güldenklee (1600 – 1667), der in Wittenberg studiert hatte und in Colberg praktizierte, riet ihm zu einer Diät und verschrieb ein paar der damals gängigen Medikamente. Dem Buchhändler ging es damit tatsächlich besser. Als er jedoch nach einiger Zeit die Behandlung eigenständig absetzte, legte er rasch wieder an Bauchumfang zu und starb kurz darauf überraschend.
Diese Fälle schildert der Arzt in seinen Casus Medicinales. Auch andere Mediziner der damaligen Zeit kennen Beispiele für extreme Fettleibigkeit: So beschreibt Daniel Sennert (1572 – 1637) eine Frau aus Straßburg, die im Alter von 36 Jahren 480 Pfund gewogen haben soll. Nicolaas Tulp (1593 - 1674), Arzt und Bürgermeister in Amsterdam, hatte eine Fünfjährige zur Patientin, die 150 Pfund wog. Und Thomas Bartholinus (1616 –1680) berichtet von einem zehn Jahre alten Mädchen mit einem Gewicht von 200 Pfund. Es war so schwer, dass es nicht mehr gehen konnte und zeitweilig als Attraktion auf Jahrmärkten ausgestellt wurde.
Wie Mediziner Fettsucht und Übergewicht in den Anfängen der modernen Medizin – also um die Zeit zwischen 1500 und 1750 – diskutierten, welche Erklärungen sie dafür hatten und welche Therapien sie ihren Patienten empfohlen, hat Professor Michael Stolberg untersucht. Stolberg ist Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. Sein Artikel ist in der Fachzeitschrift Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences erschienen.
„Fettsucht und Übergewicht sind für die Medizin nicht erst im 19. und 20. Jahrhundert Thema geworden. Schon lange vorher haben Ärzte in ihren Schriften intensiv darüber diskutiert“, sagt Stolberg. Tatsächlich habe sich so gut wie jeder Autor medizinischer Schriften in den Anfängen der modernen Medizin damit beschäftigt. Und was die Ärzte im 16. oder 17. Jahrhundert zu sagen hatten, ist teilweise gar nicht so weit entfernt von den Aussagen, die heute zu hören sind.
Immer die gleichen Vorurteile gegenüber Übergewichtigen
„Viele der überwiegend negativen Eigenschaften, die heute mit Fettsucht und einem übergewichtigen Körper assoziiert werden, findet man auch in der frühneuzeitlichen Literatur. Sie sind Teil unseres kulturellen Erbes geworden“, sagt Stolberg. Übergewichtige galten schon vor 400 Jahren als unbeherrscht. Es mangele ihnen an Selbstdisziplin, mit ihrer Fresssucht glichen sie eher Tieren; vom damaligen Ideal des vernunftbegabten Menschen, dessen Verstand ihn über das Tierreich stelle, seien sie weit entfernt, lauteten die gängigen Vorurteile. Fettleibige besäßen zudem eine geringere Intelligenz, ein schlechteres Gedächtnis und schwächere Sinne als ihre Mitbürger.
Was die medizinischen Folgen des Übergewichts betrifft, liegen die damaligen und die heutigen Prognosen ebenfalls nicht weit auseinander: Herzschwäche, Herzstolpern, Herzrasen, Atemnot, Schlaganfall und ein früher Tod drohten den Betroffenen nach Ansicht der Ärzte.
Die Lehre von den Säften
Was passiert im Körper, wenn Menschen mehr und mehr Fettpolster anlegen? Diese Frage wurde in den vergangenen Jahrhunderten ganz anders beantwortet als heute. „Vorstellungen von Energie, Stoffwechsel, Kalorien oder Kilojoule hat es damals noch nicht gegeben“, sagt Stolberg. Stattdessen dominierte die Säftelehre das Theoriengebäude der Medizin. Verkürzt dargestellt, wurden fast alle Krankheiten auf unreine, verdorbene, faulige oder in anderer Weise krankhafte Säfte zurückgeführt. Die Behandlung bestand konsequenterweise darin, diese krankhaften, verdorbenen Säfte aus dem Körper „auszuleiten“. Aderlässe, Schröpfen und Blutegel ansetzen waren gängige Therapieformen.
Wie das überschüssige Fett in diese Theorie einzubinden war, dazu entwickelten die Mediziner der frühen Neuzeit verschiedene Ideen. Der französische Arzt Jean Fernel (1497 – 1555) vermutete, dass eine exzessive Nahrungsaufnahme die „angeborene Hitze“, also die Lebenswärme, im Körper schwächen könnte. Die Nahrung werde deshalb nicht mehr adäquat verarbeitet, rohe Reste, kurz vor der Fäulnis stehend, würden sich im Körper ansammeln und die Gefäße verstopfen. Damit starte ein fataler Kreislauf: Jede weitere Nahrungsaufnahme erhöhe den Druck im Körperinneren, Gefäße verengten sich in der Folge oder würden ganz verschlossen, der Körper sei nicht mehr ausreichend „durchlüftet“. Im schlimmsten Fall erlösche das „innere Feuer“ oder die Gefäße rissen – der Patient sterbe.
Wie das Fett den Körper wieder verlässt
Um das zu verhindern, musste das Fett den Körper schleunigst wieder verlassen – bloß wie? „Im 17. Jahrhundert betrachteten viele Autoren Körperfett als das Produkt eines irreversiblen Umwandlungsprozesses, als eine Art Abfallprodukt“, sagt Stolberg. Sie bezweifelten deshalb, dass es möglich sei, das Fett quasi wieder zu „verflüssigen“ und über den Blutkreislauf abzutransportieren. „Erst nach und nach setzte sich die Idee durch, dass Fettgewebe durch Bewegung und Hitze ‚verdünnt‘ werden könnte“, so der Medizinhistoriker. Harte Arbeit oder Bewegung könnten das Fett zurück in die Blutgefäße treiben, wo es dann verbraucht werde.
Dementsprechend fielen die Therapievorschläge der damaligen Zeit aus. „An oberster Stelle stand der Rat, weniger zu essen, vor allem weniger Fett“, sagt Stolberg. Zusätzlich sollten sich die Patienten mehr bewegen und weniger schlafen. Auch kräftiges Schwitzen sollte das überschüssige Fett im wahrsten Sinne des Wortes „dahin schmelzen“ lassen. Vor allem das Trinken von Mineralwasser und der Besuch von Bädern entwickelten sich deshalb bis zum 19. Jahrhundert zu den bevorzugten Methoden, Übergewicht zu bekämpfen. Andere Vorschläge sollten verhindern, dass der Körper Fett überhaupt einlagerte. Dafür durften die Betroffenen nur noch heiße, scharf gewürzte oder saure Nahrung zu sich nehmen, da diese sich weniger leicht als Fett ablagerte. „Alles, was der damaligen Vorstellung nach dazu geeignet war, das Blut ‚heißer‘ und ‚schärfer‘ zu machen, galt als gutes Mittel, Fettsucht zu besiegen“, so Stolberg.
Warum sich Mediziner mit Fettsucht befassen
Warum haben sich Mediziner der frühen Neuzeit so intensiv mit Fettsucht und Übergewicht beschäftigt? Michael Stolberg sieht dafür vor allem drei Gründe.
Erstens: „Medizin war zu dieser Zeit zu weiten Teilen eine Buchdisziplin.“ Wer in der Fachwelt anerkannt und berühmt sein wollte, musste Lehrbücher verfasst haben. Das Beispiel „Fettsucht“ wurde in solchen Werken gerne herangezogen, konnte der Autor daran doch zeigen, dass er die Theorien der antiken und mittelalterlichen Autoritäten gelesen hatte und nun möglichst geistreich kommentierte.
Zweitens: Am Beispiel der Fettsucht konnten die Autoren eindrucksvoll demonstrieren, dass sie die Vorgänge im Körper bis ins letzte Detail durchschaut hatten. Wer neue Theorien einführen wollte, konnte an diesen Beispielen die angebliche Überlegenheit seiner Vorstellungen auf eingängige Weise darstellen.
Und drittens: Übergewicht und Fettsucht waren für damalige Ärzte ideal, um ihre überlegene Expertise auf dem Gebiet der Diät zu demonstrieren. Damit konnten sie ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, jedem Patient eine maßgeschneiderte Behandlung anzubieten – abgestimmt auf seine individuelle Geschichte, seinen Lebensstil und seine Konstitution. Oder, anders formuliert: „Ein Bewusstsein für ein unterschätztes oder vernachlässigtes Gesundheitsrisiko zu schaffen – oder solch ein Risiko überhaupt erst zu erfinden – war schon immer eine gute Möglichkeit, einen Markt für die eigenen Publikationen, Ratgeber oder Medikamente zu schaffen“ , sagt Michael Stolberg.