Möglicher „Pausenknopf“ in der menschlichen Entwicklung entdeckt
Ergebnisse könnten helfen IVF und Reproduktionstechnologien zu verbessern
Embryonen entwickeln sich normalerweise kontinuierlich weiter, von Empfängnis bis zur Geburt. Bei einigen Säugetieren allerdings passt sich das Timing der Embryonalentwicklung so an, dass sich die Überlebenschancen des Embryos und der Mutter verbessern. Dieser Mechanismus, die so genannte embryonale Diapause, tritt häufig im Blastozystenstadium auf, also kurz bevor sich der Embryo in der Gebärmutter einnistet. Während der Diapause nistet sich der Embryo nicht ein und entwickelt sich nicht weiter. Dieser Ruhezustand kann wochen- oder monatelang aufrechterhalten werden, bis die Entwicklung wieder aufgenommen wird, wenn die Bedingungen günstiger sind – die Schwangerschaft dauert dementsprechend länger. Obwohl nicht alle Säugetiere diese Fortpflanzungsstrategie anwenden, kann die Entwicklungsverzögerung bei vielen experimentell ausgelöst werden. Ob auch menschliche Zellen auf diese Auslöser reagieren könnten, blieb bisher eine offene Frage.
Nun hat eine Studie aus den Labors von Nicolas Rivron am Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Aydan Bulut-Karslıoğlu am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin ergeben, dass die molekularen Mechanismen, die die embryonale Diapause steuern, auch in menschlichen Zellen wirksam zu sein scheinen. Ihre Ergebnisse wurden im Fachmagazin Cell veröffentlicht.
Embryomodelle enthüllen Diapause beim Menschen
Die Wissenschaftler*innen führten keine Experimente an menschlichen Embryonen durch. Stattdessen verwendeten sie menschliche Stammzellen und stammzellbasierte Blastozystenmodelle, so genannte Blastoide. Blastoide sind eine wissenschaftliche und ethische Alternative, um die Forschung an Embryonen zu vermeiden. Die ForscherInnen entdeckten, dass die Veränderung einer bestimmten molekularen Kaskade, des mTOR-Signalwegs, in diesen Stammzellmodellen einen Ruhezustand herbeiführt. Dieser Zustand ist der Diapause sehr ähnlich.
„Der mTOR-Signalweg reguliert das Wachstum und den Entwicklungsfortschritt in Mäuseembryonen“, erklärt Aydan Bulut-Karslıoğlu. „Als wir menschliche Stammzellen und Blastoide mit einem mTOR-Inhibitor behandelten, beobachteten wir eine Entwicklungsverzögerung. Das bedeutet, dass auch menschliche Zellen die molekulare Maschinerie einsetzen können, um eine Reaktion ähnlich der Diapause hervorzurufen.“
Dieser Zustand zeichnet sich aus durch eine verringerte Zellteilung, eine langsamere Entwicklung und eine geringere Fähigkeit zur Anheftung an die Gebärmutterschleimhaut. Die Fähigkeit, in dieses ruhende Stadium einzutreten, scheint auf eine kurze Entwicklungszeit beschränkt zu sein. „Die Entwicklung von Blastoiden kann um das Blastozystenstadium herum verzögert werden, was genau das Stadium ist, in dem die Diapause bei den meisten Säugetieren funktioniert“, sagt Ko-Erstautor Dhanur P. Iyer. Diese Ruhephase ist zudem reversibel: Die Blastoide nehmen ihre normale Entwicklung wieder auf, wenn der mTOR-Signalweg reaktiviert wird.
Potential für IVF
Der Mensch, wie andere Säugetiere auch, könnte also über einen Mechanismus zur vorübergehenden Verlangsamung der Embryonalentwicklung verfügen - auch wenn dieser während der Schwangerschaft nicht genutzt wird. „Dieses Potenzial könnte ein Überbleibsel des evolutionären Prozesses sein, das wir aber nicht mehr nutzen“, sagt Nicolas Rivron. „Obwohl wir die Fähigkeit verloren haben, Schwangerschaften auf natürliche Weise in einen Ruhezustand zu versetzen, deuten diese Experimente darauf hin, dass wir uns diese innere Fähigkeit dennoch bewahrt haben und sie wieder freisetzen könnten“.
Die Entdeckung könnte die Reproduktionsmedizin beeinflussen: „Einerseits ist bekannt, dass eine schnellere Entwicklung die Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation (IVF) erhöht. Eine Steigerung der mTOR-Aktivität könnte diese schnelle Entwicklung erreichen“, erklärt Nicolas Rivron. „Andererseits könnte ein Ruhezustand während einer IVF-Behandlung ein größeres Zeitfenster bieten, um die Gesundheit des Embryos zu beurteilen und den Embryo mit der Mutter zu synchronisieren, um damit die Einnistung in der Gebärmutter zu verbessern.“
Die neuen Erkenntnisse bieten unerwartete Einblicke in unsere früheste Entwicklung, und ermöglichen neue Wege, die reproduktive Gesundheit zu verbessern. „Diese aufregende Zusammenarbeit ist ein Beweis dafür, wie komplexe biologische Fragen durch die Zusammenführung von Fachwissen beantwortet werden können“, sagt Heidar Heidari Khoei, Postdoktorand im Labor von Nicolas Rivron und Ko-Erstautor der Studie. „Unsere Arbeit zeigt nicht nur, wie wichtig die Zusammenarbeit für den Fortschritt der Wissenschaft ist. Sie öffnet auch neue Perspektiven, um zu verstehen, wie Zellen verschiedene Signale am Start ihrer Entwicklungsreise wahrnehmen”.
Originalveröffentlichung
Dhanur P. Iyer, Heidar Heidari Khoei, Vera A. van der Weijden, Harunobu Kagawa, Saurabh J. Pradhan, Maria Novatchkova, Afshan McCarthy, Teresa Rayon, Claire S. Simon, Ilona Dunkel, Sissy E. Wamaitha, Kay Elder, Phil Snell, Leila Christie, Edda G. Schulz, Kathy K. Niakan, Nicolas Rivron, Aydan Bulut-Karslioğlu; "mTOR activity paces human blastocyst stage developmental progression"; Cell