Wieso wir fünf Finger an einer Hand haben

10.04.2012 - Schweiz

Die fünf Finger einer Hand sind ein entwicklungsbiologisches Merkmal, das die kulturelle Entwicklung des Menschen – etwa bei der Einführung des Dezimalsystems – massgeblich beeinflusst hat. Die Forschungsgruppe von Prof. Rolf Zeller am Departement Biomedizin der Universität Basel hat nun einen molekularen Regler gefunden, der im Embryo die Bildung der fünf unterschiedlichen Finger einer Hand steuert. Störungen dieses Regelkreises können zu angeborenen Missbildungen oder Besonderheiten wie überzählige Finger und Zehen führen.

Universität Basel

Links: Die Abschaltung des GLI3-Transkriptionsfaktors in Mäuseembryonen führt zu exzessiver Zellproliferation (grün) und verhindert die Bildung der Anlagen (rot) des zukünftigen ersten (Daumen) und zweiten Fingers in der oberen Hälfte der Vorderpfote. Rechts: Nach Abschaltung von GLI3 hat sich eine Vorderpfote mit sieben Fingern gebildet.

In Embryos gibt es während der Organentwicklung präzise Zeitfenster, in denen sich die Vorläuferzellen von Geweben und Organen rapide vermehren, um genug Zellen zur Organbildung zu generieren. Im Gegensatz zu Tumoren sind diese Zellteilungen jedoch strikt geregelt, sodass genügend, aber nicht zu viele Zellen zur Bildung von Organen und Geweben vorhanden sind. Dr. Javier Lopez-Rios und Kollegen aus der Forschungsgruppe von Prof. Rolf Zeller konnten nun nachweisen, dass bei der Bildung von fünf Fingern der Transkriptionsfaktor GLI3 während des rasanten Wachstums der embryonalen Extremitätenknospen die Balance zwischen Zellteilung (Proliferation) und Differenzierung steuert. Die Proliferation wird dabei von GLI3 gezielt gebremst und mit der Zelldifferenzierung zeitlich und räumlich eng verknüpft. Die Studie, die auch zeigt, wie Störungen der Zellproliferation zu angeborenen Missbildungen führen, wurde in der Zeitschrift «Developmental Cell» veröffentlicht.

Polydaktylien sind relativ häufig

In der Vergangenheit wurden vor allem molekulare Netzwerke studiert, welche die Proliferation und Musterbildung der embryonalen Vorläufer- und Stammzellen kontrollieren. Hingegen sind Prozesse weniger gut verstanden, welche die proliferative Expansion der Vorläuferzellen beenden und die Zelldifferenzierung einleiten. Es ist jedoch klar, dass im Embryo die Zeitfenster für die Proliferation von bestimmten Vorläuferzellen streng reguliert sind und dass Abweichungen davon zu angeborenen Missbildungen führen, zum Beispiel zur Bildung eines zusätzlichen Fingers – einer sogenannten Polydaktylie. Bei Menschen treten Polydaktylien mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Fall in 500–1000 Neugeborenen relativ häufig auf. Ein berühmtes Beispiel sind die polydaktilen Katzen des Schriftstellers Ernest Hemingway mit sechs Zehen.

Anomalien in Musterbildung und Koordination

In Mäuseembryonen hat das gezielte Abschalten des GLI3-Transkriptionsfaktors drastische Folgen: Statt fünf bilden sich bis zu acht Finger pro Vorderpfote. Zellers Gruppe fand nun heraus, dass GLI3 normalerweise eine Doppelfunktion hat, indem es die Zellproliferation so bremst, dass nicht zu viele Vorläuferzellen gebildet werden und gleichzeitig deren Differenzierung in die Anlagen der fünf Finger zum richtigen Zeitpunkt auslöst. Fehlt GLI3 in der Extremitätenknospe von Mäuseembryonen, werden zu viele Vorläuferzellen produziert, und ihre Differenzierung verzögert sich, sodass zusätzliche Finger angelegt werden. GLI3 koordiniert also die Proliferation und Differenzierung von Zellen sowohl zeitlich als auch räumlich.

Beim Menschen führen Mutationen im GLI3-Gen zu verschiedenen Syndromen (Missbildungen in verschiedenen Geweben) und Polydaktylien. Die Analyse von GLI3 in Mäuseembryonen zeigt nun, dass diese angeborenen Missbildungen – anders als bisher meist angenommen – nicht unbedingt eine Konsequenz von fehlerhafter Musterbildung sind, sondern auch durch Anomalien in der Koordination von Proliferation und Differenzierung entstehen. Da Mutationen im vom GLI3 gesteuerten molekularen Netzwerk bei Kindern und Erwachsenen zu bösartigen Tumoren führen können, tragen die Resultate dieser Studie auch zum Verständnis der Veränderungen bei, die zur unkontrollierten Proliferation von Tumorzellen führen.

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