Hauptkomponente des Krankheitsmechanismus der Masern aufgeklärt: neue Erkenntnisse für Krebstherapie
Sie bleiben gefährlich – noch immer sterben weltweit um die 120.000 Menschen jährlich an den Folgen der Masern. Das auslösende Masernvirus ist ein hoch ansteckender Erreger, Ungeimpfte erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 Prozent, wenn sie mit einem Erkrankten Kontakt haben. Obwohl die Masern in großen Teilen der Welt dank intensiver Impfkampagnen als ausgerottet gelten, kommt es in Deutschland immer wieder zu lokalen Masernausbrüchen. Im Jahr 2010 wurden dem Robert Koch-Institut 780 Fälle gemeldet.
Verblüffend, dass bisher nicht im Detail bekannt war, wie der Pathomechanismus verläuft. Vor einigen Jahren klärten Wissenschaftler auf, wie das Virus in den Körper gelangt: Natürlich vorkommende Wildtyp-Masernviren infizieren mit Hilfe eines spezifischen Rezeptors – dem 'signalling lymphocyte-activation molecule' (SLAM) – offenbar primär Makrophagen und dendritische Zellen in den Atemwegen. Diese virusbeladenen Zellen wandern über lokale Lymphknoten in die lymphatischen Organe ein, wo sich die Viren intensiv vermehren. Wie aber die Erreger in die Atemwege zurückgelangen, um schließlich den Weg nach außen zu nehmen, blieb bisher ein Rätsel. Forscher um Dr. Michael Mühlebach von der Abteilung Medizinische Biotechnologie des Paul-Ehrlich-Instituts haben in einer multinationalen Kooperation mit Forschungsgruppen aus den USA, Kanada, Singapur und Frankreich das Geheimnis gelüftet. „Wir haben gezielt nach einem Protein gesucht, das auf der Innenseite der Epithelzellen sitzt und damit für die Viren zugänglich ist und ihnen den Weg durch die Epithelzelle ermöglicht“, erläutert Mühlebach.
Für ihre Suche nutzten die Forscher gleich sieben verschiedene Zelllinien von Lungen- und Blasentumoren, ein Teil infizierbar durch pathogene Masernviren, der andere nicht. Die Wissenschaftler verglichen die exprimierte Boten-RNA, sie prüften also, welche Proteine bei der infizierbaren Gruppe gebildet werden, nicht jedoch bei der anderen. Aus der Gruppe der Kandidatenproteine, die nur die infizierbaren Zelllinien gemeinsam hatten, wählten die Forscher die zwölf am stärksten exprimierten Proteine aus sowie 18 weitere, die aufgrund ihrer Eigenschaften potenzielle Kandidaten waren. In Zelllinien, in die normalerweise Masernviren nicht eindringen können, weil diesen Zellen das Protein fehlte, das den Viruseintritt erlaubt, wurden die einzelnen Kandidatenproteine exprimiert und geprüft, ob in Anwesenheit des jeweiligen Proteins die Zellen infizierbar werden. Die Forscher identifizierten auf diesem Weg das Transmembranprotein Nectin-4, das für die Infizierbarkeit mit Masernviren verantwortlich sein kann. Nectin-4 ist ein Protein aus der 'Immunglobulinsuperfamilie' und in der Wissenschaft auch als Poliovirus-receptor-related-4 (PVRL4) bekannt. Um den Nachweis zu erbringen, dass Nectin-4 tatsächlich essenziell für die Infektion ist, blockierten Mühlebach und Kollegen spezifisch die Nectin-4-Genexpression bei infizierbaren Zelllinien und konnten so das Eindringen des Virus verhindern.
Dabei wollten es die Forscher nicht belassen, denn in Tumorzelllinien werden auch Proteine gebildet, die in den entsprechenden gesunden Zellen kaum vorhanden sind. Aus diesem Grund prüften die Wissenschaftler die Bedeutung des Nectin-4 in 'normalen' humanen Atemwegsepithelzellen, die in einer Epithelschicht vergleichbar der Epithelschicht in den Atemwegen kultiviert wurden. Auch hier wurde die Expression der Nectin-4-Boten-RNA nachgewiesen. Und ebenso konnte durch spezifische Blockade der Genexpression von Nectin-4 mit sogenannten 'small interfering RNAs' (siRNA) die Infektion durch die Masernviren verhindert werden. Diese und weitere Experimente legen nahe, dass dem Epithelzellrezeptor Nectin-4 eine Schlüsselrolle auf dem Weg des Virus über die Atemwege aus dem Wirt hinaus zukommt.
Mögliche Konsequenzen für die Tumorforschung
Die von Mühlebach und Kollegen erforschten Erkenntnisse könnten auch für die Krebsbehandlung Bedeutung erlangen. Masernviren werden schon heute als onkolytische Viren eingesetzt: Durch die Vermehrung in Tumorzellen induzieren sie deren Zelltod. Bisher ist es jedoch schwierig, die Wirksamkeit für die einzelnen Tumoren oder Patienten vorherzusagen. Nicht nur in Karzinomen, die sich aus Atemwegs- oder Blasenepithelzellen ableiten, sondern teilweise auch bei Brustkrebs, Darmkrebs und weiteren Epitheltumoren wird Nectin-4 verstärkt produziert. „Spannend ist nun die Frage, ob die Effizienz der Tumorzellinfektion möglicherweise mit dem Ausmaß der Nectin-4-Expression korreliert und darüber schon vor Behandlungsbeginn eine Vorhersage über die Wirksamkeit einer Therapie mit Nectin-4-abhängigen onkolytischen Viren möglich wird“, erläutert Prof. Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Leiter der Abteilung Medizinische Biotechnologie.