Antibiotikaverbrauch in Deutschland steigt: Verordnungen erstmals wieder über dem Niveau vor der Pandemie

Auch Verordnungen von Reserveantibiotika nehmen wieder zu

21.02.2025
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Symbolbild

Im Jahr 2023 wurden insgesamt 36,1 Millionen Packungen Antibiotika im Wert von 792,1 Millionen Euro zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgerechnet. Damit liegen die Verordnungszahlen nun erstmals wieder über dem präpandemischen Niveau des Jahres 2019. Das zeigt eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) auf Basis der Arzneimittelverordnungsdaten aller GKV-Versicherten. Nach einem Rückgang der Antibiotikaverordnungen in den sogenannten Corona-Jahren 2020 und 2021 stiegen die Verordnungen 2022 wieder, lagen aber weiterhin unter dem präpandemischen Niveau. Im Jahr 2022 betrug die Anzahl der Verordnungen noch 30,5 Millionen, 2023 stiegen diese dann um 18,4 Prozent an. Somit lagen die Verordnungen der aktuellen Auswertung zufolge um 6,1 Prozent höher als vor der Pandemie im Jahr 2019. Der Anteil der Verordnungen von Reserveantibiotika blieb trotz des insgesamt wieder steigenden Antibiotikaeinsatzes seit 2020 relativ stabil bei 43,4 Prozent. In absoluten Zahlen liegen die Verschreibungen von Reserveantibiotika nach einem Rückgang in den Corona-Jahren aber wieder auf einem ähnlichen Niveau wie 2019.

Der seit 2014 rückläufige Trend bei den Antibiotikaverordnungen wurde durch den Anstieg der Verschreibungen seit 2022 unterbrochen. Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) sagt: "Der erneute Verordnungsanstieg von Antibiotika der Reserve ist besorgniserregend, denn er könnte die Gefahr von Resistenzen weiter verschärfen, was gerade im Falle von lebensbedrohlichen Erkrankungen dramatische Auswirkungen hätte."

Reserveantibiotika sind Medikamente, für deren Einsatz eine strenge Indikation vorgesehen ist und dem der Nachweis eines multiresistenten Erregers vorausgegangen sein sollte. Sie sind eine der letzten Therapieoptionen, wenn herkömmliche Antibiotika nicht mehr wirken, und können eingesetzt werden, wenn bei schweren, potenziell tödlich verlaufenden Infektionen der Erregernachweis nicht abgewartet werden kann. Zwar steigt der Anteil der Reserveantibiotika an der Gesamtzahl der Antibiotikaverordnungen in den letzten Jahren nicht wesentlich an, allerdings werden Reserveantibiotika mit 15,7 Millionen Verordnungen im Jahr 2023 (plus 21,0 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) immer noch zu häufig verordnet. "Reserveantibiotika sind eine wertvolle Notfalloption - doch die abermals steigenden Verordnungszahlen deuten darauf hin, dass ihr zurückhaltender Einsatz noch nicht konsequent genug gelingt", so Schröder.

Deutliche regionale Unterschiede beim Einsatz von Reserveantibiotika

Im Jahr 2023 wurden gesetzlich Krankenversicherten insgesamt 323,7 Millionen Tagesdosen Antibiotika verordnet. Statistisch ergibt dies für 1.000 GKV-Versicherte 486 Antibiotikaverordnungen. Davon entfallen 275 Verordnungen auf Standard- und 211 auf Reserveantibiotika.

In den verschiedenen Regionen Deutschlands zeigen sich erhebliche Unterschiede im Antibiotikaeinsatz. Im Vergleich der Verordnungszahlen der Kassenärztlichen Vereinigungen wurde in der ambulanten Versorgung in Hamburg mit 328 Antibiotikaverordnungen je 1.000 GKV-Versicherte vergleichsweise zurückhaltend verordnet. Den Spitzenplatz bei den Antibiotikaverordnungen im Jahr 2023 belegt das Saarland mit 539 Antibiotikaverordnungen je 1.000 GKV-Versicherte. Der geringste Verordnungsanteil der Reserveantibiotika an allen Antibiotika wird mit 33,3 Prozent in Bremen erreicht, der höchste Anteil der Reserveantibiotika mit 53,4 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. "Obwohl bei diesen Betrachtungen die regional unterschiedliche Alters- und Geschlechtsstruktur der GKV-Versicherten sowie deren Morbidität unberücksichtigt bleiben, sollten diese teils drastischen regionalen Unterschiede bei Umfang und Struktur der Antibiotikaverordnung Anlass sein, regionale Verschreibungsgewohnheiten kritisch zu hinterfragen", so Schröder.

Antibiotikaverbrauch in der Tierhaltung weiterhin rückläufig

Auch der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung verstärkt das Problem der Resistenzbildung, da die Wirkstoffe zum Beispiel über den Konsum von Fleisch oder über das Grundwasser auch vom Menschen aufgenommen werden. Zur medizinischen Versorgung der Patientinnen und Patienten in Deutschland sind im Jahr 2023 insgesamt rund 310 Tonnen Antibiotika zum Einsatz gekommen (14 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr), während das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit rund 529 Tonnen an Tierärztinnen und Tierärzte abgegebene Antibiotikamengen ermittelt hat. Im veterinären Bereich setzt sich also der Abwärtstrend beim Einsatz von Antibiotika fort, anders als beim Einsatz von Antibiotika im humanmedizinischen Bereich. Maßgeblich hat hierzu eine Anpassung im Tierarzneimittelgesetz beigetragen, nach welcher der Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung auf das therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß reduziert werden soll. Insgesamt wurden im Jahr 2023 11 Tonnen weniger (minus 2,1 Prozent) Antibiotika als Tierarzneimittel abgegeben. Dies ist der niedrigste Wert seit Beginn der Erfassung 2011. Seit 2023 werden auch Antibiotika erfasst, welche zum Beispiel durch Veterinärbehörden, Apotheken und Hochschulen an Tierärztinnen und -ärzte abgegeben werden; zuvor wurden nur Abgaben von pharmazeutischen Unternehmern erfasst. In der Tiermedizin konnte in den letzten zehn Jahren die abgegebene Antibiotikamenge um 57,3 Prozent reduziert werden (2014: 1.238 Tonnen), in der Humanmedizin nur um 8,7 Prozent (2014: 39,6 Millionen Verordnungen). "Da Antibiotikaresistenzen keine Mensch-Tier-Unterscheidung kennen, brauchen wir eine konsequente Reduktion des Antibiotikaeinsatzes nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen", so Schröder.

Im Jahr 2023 keine neuen Antibiotika-Wirkstoffe entwickelt

In den letzten zehn Jahren waren nur acht von insgesamt 367 neu auf den Markt gebrachten Wirkstoffen Antibiotika. Mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungsgesetz (ALBVVG) werden seit Juni 2023 finanzielle Anreize für pharmazeutische Unternehmen geschaffen, um neue antibiotische Wirkstoffe zu entwickeln, auch 2018 wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis zu 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in einem Zeitraum von zehn Jahren unter anderem die Entwicklung neuer Antibiotika zu fördern. Schröder: "Es bleibt abzuwarten, ob diese Incentives wirklich zur Entwicklung neuer antibiotischer Arzneimittel beitragen. Der erneute Anstieg der Verordnungen von Antibiotika und Reserveantibiotika sowie die ausgetrocknete Pipeline neuer antibiotischer Wirkstoffe in den letzten Jahren machen den regulatorischen Handlungsbedarf deutlich. So sollte einerseits ein indikationsgerechter und zurückhaltender Gebrauch angemahnt werden und andererseits die öffentlich finanzierte Forschungsförderung bei den pharmazeutischen Unternehmen zum gewünschten Ergebnis führen", so Schröder. Damit könnten die Todesfälle durch Folgen von Antibiotikaresistenzen, die das Institut für Health Metrics und Evaluation weltweit jährlich auf 1,3 Millionen Menschen - bis zu 9.700 Todesfälle allein in Deutschland - schätzt, der Vergangenheit angehören.

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