Virale Nahaufnahme eines speziellen Verwandten von HIV
„Wir haben einen Unterschied zu anderen Viren erwartet, aber das Ausmaß hat uns völlig umgehauen“
© Nature Structural & Molecular Biology / Obr et al.
© Nature Structural & Molecular Biology / Obr et al.
Martin Obr ist angespannt. Ungeduldig wartet er auf seinen Zug zum Flughafen, während draußen der Sturm „Sabine“ tobt und den gesamten öffentlichen Verkehr lahmlegt. Gerade noch rechtzeitig erwischt er seinen Flug von Frankfurt nach Wien.
In Deutschland verbrachte Obr seine Tage damit akribisch die „perfekte Probe“ zu analysieren. Genau diese Probe war es auch, die ihm und Florian Schur vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) half, die Struktur eines Virus namens HTLV-1 (Human T-cell Leukemia Virus Type 1) zu entschlüsseln.
Mithilfe der Kryo-Elektronentomographie (Kryo-ET) – einer Methode, mit der man hochauflösenden Bilder von Biomolekülen und dessen Strukturen schießen kann – liefern die Forschenden nun in Zusammenarbeit mit der University of Minnesota und der Cornell University neue Details zur Architektur von HTLV-1. Die Ergebnisse wurden in Nature Structural & Molecular Biology veröffentlicht.
Der Cousin von HIV
Die Zusammenarbeit von Obr und Schur begann vor einigen Jahren, als beide an der Struktur von HIV-1 (Human Immunodeficiency Virus Type 1) forschten. Für seinen Postdoc schloss sich Obr dann Schurs Forschungsgruppe am ISTA an. Dort verlagerten sie ihren Fokus auf HTLV-1 – ein weniger bekanntes Virus aus derselben Retrovirus-Familie wie HIV-1. Ihr Ziel: dessen Architektur besser zu verstehen. „HTLV-1 ist so etwas wie der übersehene Cousin von HIV“, so Schur. „Es hat eine geringere Prävalenz als HIV-1, weltweit gibt es aber viele Fälle.“
Laut der Weltgesundheitsorganisation leben derzeit zwischen fünf und zehn Millionen Menschen mit HTLV-1. Während die meisten Infektionen asymptomatisch verlaufen, führen etwa 5 % zu aggressiven Krankheiten wie der adulten T-Zell-Leukämie/Lymphom – einer Form von Krebs mit einer Überlebensrate von weniger als einem Jahr.
„Als menschlicher Krankheitserreger, der schwere Krankheiten verursacht, sollte HTLV-1 im Mittelpunkt unserer Forschung stehen, um Fragen zu dessen Funktionen und dessen Struktur zu beantworten“, fügt Obr hinzu.
Das virale Gitter
Die Wissenschafter:innen interessierten sich vor allem für die Struktur des Viruspartikels – Details, die bis jetzt noch nicht bekannt waren. „Wenn ein Virus produziert wird, wird ein noch nicht infektiöses Partikel produziert. Das unreife Viruspartikel muss noch einen Reifungsprozess durchlaufen, um infektiös zu werden“, erklärt Schur.
Das HTLV-1-Partikel wird durch ein Gitter aus Proteinen (Bausteinen) geformt, welches zu einer kugelförmigen Hülle angeordnet ist und eine entscheidende Funktion hat: Es schützt das virale Erbgut, bis die Wirtszelle infiziert ist. Aber wie sieht dieses Gitter im Detail aus, was sind die Schlüsselkomponenten und wie unterscheidet es sich von anderen Viren?
„Wir haben einen Unterschied zu anderen Viren erwartet, aber das Ausmaß hat uns völlig umgehauen“, so Obr.
Ein einzigartiges Virus
Die Analyse der Forschenden ergab, dass sich das Gitter des unreifen HTLV-1-Partikels deutlich von anderen Retroviren unterscheidet. Die Bausteine sind einzigartig zusammengebaut. Somit ist auch die Gesamtarchitektur eine andere. Darüber hinaus unterscheidet sich auch der „Klebstoff“, der das Konstrukt zusammenhält. Bei den meisten Retroviren besteht das Gitter aus einer oberen und einer unteren Schicht; typischerweise fungiert die untere dabei als Klebstoff, der die strukturelle Integrität aufrechterhält, während die obere Schicht die Form definiert. „Bei HTLV-1 ist es genau umgekehrt. Die untere Schicht hängt praktisch an einem seidenen Faden“, erklärt Schur.
Es stellt sich die Frage, warum HTLV-1 eine so andere Gitterstruktur hat. Eine mögliche Erklärung könnte die einzigartige Übertragungsart des Virus sein. HTLV-1 bevorzugt nämlich den direkten Kontakt von einer infizierten Zelle zu einer nicht infizierten. HIV-1 hingegen nutzt eine zellfreie Übertragung. Es produziert Partikel, die sich mit dem Blutkreislauf ausbreiten können.
„Aus evolutionärer Sicht war es für HTLV-1 wahrscheinlich vorteilhaft, seine Gitterstruktur für diese Art der Übertragung zu ändern. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das aber reine Spekulation und muss experimentell noch verifiziert werden“, fährt Obr fort.
Neue Behandlungsstrategien?
Diese strukturellen Details sind ein wichtiger Schritt nach vorne und könnten den Weg für neue Behandlungsansätze bei einer HTLV-1 Infektion ebnen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Infektiosität von Retroviren zu beeinträchtigen. Man kann zum Beispiel das reife Virus in den Infektionsstadien stören oder das unreife Virus stoppen und so verhindern, dass es reif und infektiös wird. Die neue Studie der Forschenden zeigt uns nun wie das unreife Virus aussieht. Man könnte also über Strategien nachdenken, die das Virus in genau diesem Stadium bekämpfen.
„Es gibt Hemmstoffen, die entweder die Zusammensetzung stören – sie zielen auf die Bausteine ab und verhindern so, dass sie sich zusammenlagern – oder die das Gitter destabilisieren“, erklärt Schur. “Es gibt viele Möglichkeiten.“
Die perfekte „eiskalte“ Probe
Obwohl die Wissenschafter:innen jahrelange Erfahrung in der Analyse von Viren derselben Familie hatten (HIV-1), war ihr aktuelles HTLV-1-Forschungsprojekt besonders herausfordernd. Obrs „perfekte Probe“ war der Wendepunkt.
Aus Sicherheitsgründen enthält die Probe nicht das eigentliche Virus. Stattdessen produzierten die Wissenschafter:innen virenähnliche Partikel in Säugetierzellkulturen oder erzeugten die viralen Bausteine in Bakterienkulturen. „Unter den richtigen Bedingungen können diese Bausteine sich selbst zu Strukturen anordnen, die dem eigentlichen unreifen Virus ähneln“, erklärt Schur. Die nicht infektiösen Partikel werden anschließend in Windeseile eingefroren, bei -196 °C in flüssigem Stickstoff gelagert und schließlich mit einem Kryo-Elektronenmikroskop (Kryo-EM) visualisiert – eine Art Mikroskop, das hochauflösende Bilder bis zu einem Nanometer erfasst.
Doch wie können wir sicher sein, dass die Forschenden tatsächlich das echte Virus vor sich haben?
Eine berechtigte Frage, wie Obr anmerkt: „Unseren virusähnlichen Partikeln fehlen nur ein paar Enzyme, die ihnen bei der Reifung helfen würden. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die echten unreifen Partikel anders aussehen.“ Diese vorsichtige Herangehensweise gewährleistet jedoch, dass die Forscher:innen Viren auf sichere Weise untersuchen und dennoch wertvolle Erkenntnisse gewinnen können.