Bakterien tragen zur Modulation tierischen Verhaltens bei
Forschungsteam zeigt am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra, wie Nervenzellen und Mikroorganismen zusammenarbeiten, um das Fressverhalten der Tiere zu steuern
Ein Forschungsteam des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat in einer aktuellen Studie neue Erkenntnisse über die Zusammenarbeit von Nervensystem und Mikrobiom gesammelt. Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra untersuchten die Kieler Forschenden die neuronalen Grundlagen des Fressverhalten und ob und in welcher Weise das Mikrobiom in dieses Verhalten eingreift. Dabei konnten sie erstmals mechanistisch belegen, dass ein in seiner Vielfalt reduziertes Mikrobiom die Aktivität bestimmter Nervenzellen beeinflusst und dadurch das Fressverhalten beeinträchtigt wird.
Komplexe Zusammenarbeit von Nervenzellen steuert das Fressverhalten von Hydra
Der Süßwasserpolyp Hydra ist ein etwa einen Zentimeter großes Nesseltier, das im Flachwasserbereich von Seen an Wasserpflanzen angeheftet lebt und sich unter anderem von mikroskopisch kleinen Krebstieren ernährt. Um seine Beute zu fangen, ruft Hydra ein koordiniertes und relativ schnell ablaufendes Verhaltensprogramm ab. „Dieses Verhalten lässt sich experimentell gut untersuchen, da es nicht nur durch die lebende Beute, sondern auch durch das Peptid Glutathion ausgelöst werden kann, das man den Tieren in den Kulturschalen zuführen kann“, erklärt Christoph Giez, SFB 1182-Mitglied und Doktorand in der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie am Zoologischen Institut. „Dem Fressverhalten liegt eine neuronale Steuerung zugrunde, die deutlich komplexer ist, als man es bisher vom einfachen Nervennetz der Hydra angenommen hatte“, so Giez weiter. Mit einer kalzium-basierten Visualisierungsmethode konnte das Kieler Team die am Fressverhalten beteiligten Nervenpopulationen in Echtzeit im lebenden Tier beobachten und so den beteiligten neuronalen Schaltkreis identifizieren.
Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflusst natürliches Fressverhalten
Um einen Zusammenhang von Mikrobiom und Fressverhalten zu überprüfen, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst künstlich keimfrei gemachte Tiere: Hydren ohne Mikrobiom zeigten ein deutlich verändertes Verhaltensmuster, dass sich vor allem in einer kürzeren Dauer der Mundöffnung äußerte. „Durch das erneute Hinzufügen des Mikrobioms stellte sich das normale Fressverhalten bei diesen Tieren wieder ein. Damit konnten wir den direkten Einfluss des Mikrobioms nachweisen“, betont Giez.
Um herauszufinden, welche Bakterien einen besonders deutlichen Einfluss haben, besiedelten die Kieler Forscher im nächsten Schritt keimfreie Tiere zunächst mit je einer definierten Bakterienart. „Ein besonders interessanter Effekt zeigte sich bei der Besiedlung mit dem Bakterium Curvibacter. Das Fressverhalten ist bei Tieren, die nur mit Curvibacter besiedelt sind, sehr stark beeinträchtigt: Diese Tiere können den Mund nur noch sehr eingeschränkt öffnen“, so Giez weiter.
In weiteren Studien stellte sich heraus, dass Curvibacter die Aminosäure Glutamat produziert, die eine wichtige Rolle auch im menschlichen Stoffwechsel spielt. Wenn das Mikrobiom in seiner Zusammensetzung stark reduziert ist und nur noch Curvibacter vorhanden ist, sammelt sich Glutamat an, bindet an Neuronen und führt zu einer Blockade der Mundöffnung. Der hemmende Effekt der Curvibacter-Bakterien wird aufgehoben, sobald man dem Gewebe auch die restlichen Mitglieder des Mikrobioms wieder zuführt.
„Insgesamt konnten wir so nachweisen, dass bereits in stammesgeschichtlich uralten Tieren ein vielfältiges Mikrobiom für ein normales Fressverhalten notwendig ist. Ist dieses Mikrobiom in seiner Zusammensetzung stark gestört, kommt es zu deutlichen Verhaltensänderungen“, fasst Professor Thomas Bosch, Leiter der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie, zusammen. Die Forschenden haben Hinweise gesammelt, dass dies auf Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Mikrobioms beruht. Liegt ein artenreiches, „normales“ Mikrobiom vor, wird das produzierte Glutamat von anderen Bakterienarten aufgenommen und verwertet und der für das Fressverhalten verantwortliche neuronale Schaltkreis nicht gestört.
Hydra eröffnet Spektrum neuartiger Forschungsperspektiven
Die neuen Forschungsergebnisse des SFB 1182-Teams liefern mit ihrem mechanistischen Nachweis der Zusammenarbeit von Mikrobiom und Nervensystem wichtige neue Ansätze für vertiefende Forschungsarbeiten. „Unsere Studie öffnet die Tür für die weitere Erforschung der Auswirkungen des Zusammenspiels von Mikrobiom und Nervensystem auf die Funktionen des Gesamtlebewesens. Unter anderem wollen wir in Zukunft herausfinden, ob und wie Mikroorganismen bereits an der Ausbildung des Nervensystems während der Embryonalentwicklung beteiligt sind und welchen Anteil das Mikrobiom an der Herstellung von Neurotransmittern hat“, betont Bosch.
Langfristig ergeben sich aus der Aufklärung dieser Einzelbausteine verschiedene faszinierende Forschungsperspektiven, die auch auf eine Verbesserung der menschlichen Gesundheit abzielen. „Vielleicht gelingt uns mit einem besseren Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen und Bakterien im Modelltier Hydra auch ein Blick in die Mechanismen, die zu neurologischen und neurodegenerativen Krankheiten des Menschen führen können. Obwohl das Vorkommen dieser Erkrankungen weltweit sehr hoch ist, sind die Mechanismen ihrer Pathogenese noch nicht verstanden“, so Bosch, Sprecher des SFB 1182.