Schädlingsraupen können traditionelle Versuchstiere ersetzen
Innovative und einzigartige Bildgebungsplattform entwickelt
Computer-generated image
Insekten wie der Tabakschwärmer – eine Falterart aus Amerika, die als Schädling bekämpft wird – können an den gleichen oder ähnlichen Erkrankungen leiden wie der Mensch. Etwa 75 Prozent der Gene, die eine Erkrankung bei Menschen auslösen können, sind auch bei Insekten vorhanden. Die Larven des Tabakschwärmers können daher als Modellorganismus für menschliche Erkrankungen genutzt werden. So können Erkrankungen besser verstanden sowie neue Therapien und Diagnosemethoden entwickelt werden. Im Vergleich zu traditionellen Labortieren wie Ratten oder Mäusen bieten Insekten wie der Tabakschwärmer jedoch mehrere Vorteile: Ihr Einsatz in der Forschung ist schneller und kosteneffizienter als Tierversuche mit Säugetieren und mit weniger Belastungen für die Tiere verbunden.
In der Fachzeitschrift »Nature Communications« berichtet ein internationales Wissenschaftlerteam um den Gießener Forscher Dr. Anton Windfelder vom Gießener Institutsteil Bioressourcen des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME und der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) über seine Entdeckung: Die Raupen des Tabakschwärmers können genutzt werden, um chronisch entzündliche Darmerkrankungen zu erforschen und neue dringend benötigte Therapien zu entwickeln und zu testen. Die Methode bietet zudem den Vorteil: Viele Tiere können in kurzer Zeit untersucht werden. In der Computertomographie lassen sich bis zu 100 Tiere in wenigen Sekunden untersuchen. Im Unterschied zu traditionellen molekularbiologischen oder histologischen Methoden überstehen die Tiere die Narkose und Bildgebung sehr gut und leben danach unversehrt weiter.
»Entzündungen des Magen-Darmtrakts gehören zu den häufigsten Erkrankungen weltweit und chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie beispielsweise Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa sind global auf dem Vormarsch«, so Dr. Windfelder.
»Das Immunsystem des Darms und die Struktur des Darmepithels der Tabakschwärmerlarven sind mit denen von Säugetieren vergleichbar. Im Unterschied zu anderen Insekten wie etwa der Taufliege Drosophila sind die Raupen des Tabakschwärmers jedoch groß genug für die medizinische Bildgebung«.
Gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern aus Düsseldorf und New York haben die Gießener Forscherinnen und Forscher für Larven des Tabakschwärmers eine innovative und einzigartige Bildgebungsplattform entwickelt. »Wir nutzen bildgebende Verfahren aus der Radiologie und Nuklearmedizin und können mittels Computertomographie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) und Positronen-Emissions-Tomografie (PET) eine Entzündung im Darm der Tiere zielgenau diagnostizieren«, so die ebenfalls an der Studie beteiligte Medizinerin Prof. Dr. Gabriele Krombach, Direktorin der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie des Universitätsklinikums Gießen. Die Darmentzündung der Insektenlarven wird in Analogie zu einer Darmentzündung beim Menschen mit Kontrastmitteln und speziellen Markern wie FDG (F-Desoxy-Glukose) diagnostiziert. Medikamente wie beispielsweise Cortison, die bei akuten Schüben von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt werden, zeigen auch bei den Larven des Tabakschwärmers eine deutliche Reduzierung der Entzündung.
Mit der Publikation in Nature Communications macht das Team auf die erfolgreiche alternative Verwendung von Insekten wie dem Tabakschwärmer in der frühen präklinischen Forschung aufmerksam. »Natürlich können Insekten Mäuse und Ratten nicht vollständig ersetzen«, ergänzt der ebenfalls an der Studie beteilige Zoologe Prof. Dr. Andreas Vilcinskas, Leiter des Fraunhofer IME in Gießen und des Instituts für Insektenbiotechnologie an der JLU. »Erkenntnisse aus der Zellkultur lassen sich oft nicht im lebenden Tier reproduzieren. Genau hier könnten Versuche mit Insekten wie dem Tabakschwärmer weiterhelfen, um vielversprechende neue Wirkstoffe und Therapien auszuwählen, die dann in traditionellen Modellen weiter evaluiert werden«. Die Forschung würde dadurch erheblich beschleunigt und wäre kostengünstiger.
Originalveröffentlichung
Anton G. Windfelder, Frank H. H. Müller, Benedict Mc Larney, Michael Hentschel, Anna Christina Böhringer, Christoph-Rüdiger von Bredow, Florian H. Leinberger, Marian Kampschulte, Lorenz Maier, Yvette M. von Bredow, Vera Flocke, Hans Merzendorfer, Gabriele A. Krombach, Andreas Vilcinskas, Jan Grimm, Tina E. Trenczek & Ulrich Flögel: High-throughput Screening of Caterpillars as a Platform to Study Host-microbe Interactions and Enteric Immunity. Nature Communications 2022