Die versteckte Pandemie
Rund 14 Millionen Menschen mit Adipositas
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Wie viele Betroffene ist Wirtz seit seiner Kindheit übergewichtig.
Als Berufssoldat bei der Bundeswehr habe er durch Sport das Gewicht noch in Schach halten können, doch nach seinem Ausscheiden landete er irgendwann bei 160 Kilogramm. Vor rund zehn Jahren erhielt Wirtz einen Magen-Bypass. Danach halbierte er sich, inzwischen ist er wieder bei etwa 110 Kilo angekommen.
«Schon vor der Corona-Pandemie war Adipositas eine Volkskrankheit, nun dürften mehr Menschen betroffen sein als je zuvor - darauf weisen erste Daten hin», warnt Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Damit aus den Corona-Kilos keine Welle schwerwiegender Folgekrankheiten entstehe, müsse die Therapie gestärkt werden, fordert der ärztliche Leiter am Adipositas-Centrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). 13 Krebsformen werden mit Adipositas in Zusammenhang gebracht, zudem unter anderem Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall.
Nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) waren bereits vor Pandemiebeginn bundesweit rund 16 Millionen Erwachsene und etwa 800 000 Kinder und Jugendliche von Adipositas betroffen. Als adipös gelten Menschen mit einem Body Mass Index (BMI) von mehr als 30, Übergewicht beginnt bei einem BMI von über 25. Der BMI wird aus Körpergröße und -gewicht berechnet. Alarmierende Zahlen veröffentlichte Anfang Mai auch die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem Europäischen Fettleibigkeitsbericht 2022, demzufolge mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa übergewichtig oder adipös sind.
Derzeit beginne die Therapie oft zu spät, kritisiert Wirtz. «Menschen mit Adipositas sind in Deutschland unterversorgt.» Wichtig sei ein individueller Plan, der aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie bestehe. Es müssten auch mögliche psychische Erkrankungen abgeklärt werden. Zudem sei zu entscheiden, ob eine konservative Therapie ausreiche oder ein chirurgischer Eingriff möglich und notwendig sei.
Laut einem vor kurzem im «Deutschen Ärzteblatt» erschienenen Aufsatz werden bundesweit etwa 20 000 adipositaschirurgische Operationen pro Jahr gemacht. Die am häufigsten angewendeten Verfahren führten zu einem Gewichtsverlust von 27 bis 69 Prozent des überschüssigen Körpergewichts nach mehr als zehn Jahren, hieß es. Allerdings sei eine lebenslange Nachsorge erforderlich.
Die Krankenkassen zahlten häufig erst die chirurgischen Eingriffe, aber keine anderen Programme, bemängelt Wirtz. «Die Folgekosten für die Gesellschaft werden dabei nicht bedacht.» Das Iges Institut, ein Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen, schätzte die indirekten Kosten der Adipositas bereits 2016 auf 6 bis 33 Milliarden Euro pro Jahr.
Es ist ein Teufelskreis: Häufig schaffen es Personen mit extremem Übergewicht irgendwann nicht mehr aus ihrer Wohnung und nehmen weiter zu. In Hannover öffnete im August 2021 ein Spezialpflegebereich für Menschen mit starker Adipositas im Alter zwischen 30 und 60 Jahren.
Nach Angaben des Betreibers Diakovere gibt es bundesweit bisher nur eine Handvoll derartiger Einrichtungen, meist mit dem Fokus allein auf der Pflege. In Hannover werden dagegen individuelle Therapiepläne aufgestellt - in Abstimmung mit dem Kompetenzzentrum für Adipositaschirurgie und der Klinik für Psychosomatik der Diakovere.
Bausteine sind Bewegungsangebote, die Umstellung der Ernährung sowie psychologische Unterstützung.
«Die Menschen auf der Station bezeichnen wir bewusst als Patienten, nicht als Bewohner», sagt Pflegeleiterin Yvonne Sabovic-Dunsing. Ziel sei die Rückkehr nach Hause und in den Job. Sechs Plätze stehen zur Verfügung, täglich gehen Anfragen aus ganz Deutschland und sogar dem deutschsprachigen Ausland ein. Vier Männer und zwei Frauen werden derzeit begleitet. Bei der Aufnahme war keiner mehr in der Lage zu arbeiten. Laut Sabovic-Dunsing lebten die meisten bei Eltern oder Geschwistern und wurden von ihnen versorgt - so weit dies überhaupt möglich war.
Wer über 200 oder gar an die 300 Kilogramm wiegt, kann sich kaum noch bewegen. Alles auf der Station - auch die Rollstühle oder Balkonmöbel - sind auf Schwerlast ausgelegt. Ursache für den extremen Gewichtszuwachs auf über 200 Kilo ist meist ein besonderer Auslöser: Jobverlust, Trennung vom Partner, auch die Corona-Pandemie war teils ein Beschleuniger.
«Als wir das erste Mal gemeinsam draußen waren, haben einige geweint, weil sie vier, fünf Jahre nicht mehr an der frischen Luft waren», erzählt Sabovic-Dunsing. Ein Interview geben möchte keiner der sechs, auch nicht der junge Mann, der bereits mehr als 80 Kilo abgenommen hat und inzwischen einmal wöchentlich allein mit der Bahn zum Schwimmen mit einem Therapeuten fährt. Der Pflegeleiterin zufolge haben die meisten traumatische Erfahrungen hinter sich.
Oft werden Betroffene aus Unwissenheit oder Gemeinheit als faul oder willensschwach beschimpft. Viele erlebten Hänseleien bis hin zu Mobbing von klein auf. Meike Preußner ist selbstbewusst und direkt - vielleicht sei sie deshalb nie wegen ihrer Statur verspottet worden, glaubt die 32-Jährige aus Hamburg, die sich auch in der Selbsthilfe engagiert. Sie habe lange das Problem verdrängt und sei sehr aktiv gewesen: Reiten, Schwimmen - trotz Adipositas. «Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, dass ich beim Wandern mit Freunden nicht mehr den Berg hochkam.» 2013 - mit knapp 160 Kilo - ließ sie sich einen Magen-Bypass einsetzen.
Immer noch macht sie fast täglich Sport, um ihr Gewicht von etwas über 100 Kilogramm zu halten. Die Tiermedizinische Fachangestellte bietet Wassergymnastik-Kurse für Menschen mit Adipositas an. Im Schwimmbad in Lüneburg wird dafür ein Bewegungsbecken reserviert, das nicht vom gesamten Badebetrieb einsehbar ist. In der Gruppe sei die Hemmschwelle geringer, trotz starken Übergewichts ins Schwimmbad zu gehen, erzählt Preußner. Die Kurse seien sehr gefragt. «Schade, dass es noch nicht überall in Deutschland solche Angebote gibt.» (dpa)