Wie Blutstammzellen ein Leben lang intakt bleiben
Erstaunlichen Mechanismus entdeckt
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Ein Forschungsteam vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), vom Heidelberger Institut für Stammzellforschung und Experimentelle Medizin (HI-STEM) am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und von der Harvard Medical School in den USA, hat nun einen erstaunlichen Mechanismus entdeckt, mit dem sich der Körper vor diesem fatalen Schicksal schützt.
Unser Blut enthält eine Vielzahl verschiedener Zellarten, die für die Immunabwehr, den Transport von Sauerstoff und den Wundverschluss zuständig sind. Täglich werden alte Zellen aussortiert und etwa eine Milliarde Zellen neu gebildet, erklärt Simon Haas vom BIH, dem MDC und HI-STEM. „Je nach Bedarf sind es auch mal mehr, ein COVID-Patient braucht zum Beispiel mehr Immunzellen, um gegen seine Infektion anzukämpfen. All das erledigen zuverlässig unsere Stammzellen im Knochenmark. Und zwar lebenslang.“
Passiver und aktiver Schutz von Stammzellen
Doch gerade, weil die Stammzellen im Knochenmark so unendlich viele Zellen produzieren, muss ihr Erbgut besonders gut vor Schäden bewahrt werden. „Jeder Fehler wird an die Tochterzellen vererbt und damit vervielfacht“, sagt Simon Haas. Wissenschaftler*innen sind daher schon lange auf der Suche nach den Schutzmechanismen, die dafür sorgen, dass Stammzellen nur in Ausnahmefällen entarten. Einer dieser Mechanismen ist bereits seit einiger Zeit bekannt „Die Stammzellen sitzen im Knochenmark in einer Stammzellnische, in der sie vor schädlichen Umwelteinflüssen geschützt sind“, sagt Andreas Trumpp, Direktor des Stammzellforschungsinstituts HI-STEM und Abteilungsleiter am DKFZ in Heidelberg. „Dort verharren sie in einer Art Schlafzustand, aus dem sie nur bei Bedarf aufgeweckt werden. Das funktioniert sehr zuverlässig, erst im höheren Alter nimmt die Schutzwirkung ab. Deshalb tritt Blutkrebs bei älteren Menschen leider etwas häufiger auf.“
Doch dieser „passive“ Schutz ist offenbar nur ein Teil des Geheimnisses der unversehrten Stammzellen. Wie das Team um Simon Haas nun herausgefunden hat, entstehen durchaus gelegentlich entartete Stammzellen. Doch diese werden offenbar rechtzeitig entdeckt und aussortiert. „In der Stammzellnische befinden sich Immunzellen, die T-Zellen, die regelmäßig überprüfen, welche Eiweiße die Stammzellen auf ihrer Oberfläche präsentieren“, berichtet Simon Haas. „Stellen die Immunzellen fest, dass die Stammzellen krebsartige Veränderungen aufweisen, aktivieren sie diese und vertreiben sie aus der Stammzellnische.“
Single-Cell-Technologien enthüllen Kommunikation mit T-Zellen
Die Interaktion zwischen den T-Zellen und den Stammzellen haben die Wissenschaftler*innen eher zufällig entdeckt. Pablo Hernández-Malmierca, Erstautor der Arbeit, untersuchte die Stammzellen mithilfe von Genexpressionsanalysen und Single-Cell-Technologien. „So fanden wir heraus, dass die Stammzellen im Knochenmark alle Eiweiße herstellen, die zur Kommunikation mit den T-Zellen in der Knochenmarknische notwendig sind.“
Das Team war vor allem darüber erstaunt, dass die Stammzellen offenbar Signalmoleküle nutzen, die eigentlich nur wenige, spezialisierte Zellarten zur Kommunikation mit T-Zellen einsetzen. „Über die MHC-Klasse-II-Moleküle auf der Zelloberfläche kommunizieren ausschließlich professionelle Antigen-präsentierende Zellen“, erklärt Simon Haas. „Damit setzen sie eine Immunantwort in Gang, die zur Abtötung von infizierten oder entarteten Zellen führt. Dass dieser spezielle Weg auch von den Stammzellen im Knochenmark genutzt wird, konnten wir zunächst gar nicht glauben.“ Um zu überprüfen, ob die Stammzellen die MHC-II-Moleküle nicht nur herstellen, sondern auch wirklich benutzen, brachte der zweite Erstautor, Dominik Vonficht, Stammzellen und T Zellen in der Kulturschale zusammen.
„Dabei haben wir entdeckt, dass die entarteten Stammzellen Bruchstücke ihrer veränderten Proteine auf ihren MHC-II-Molekülen präsentieren und damit die T-Zellen aktivieren. Umgekehrt haben wir gesehen, dass auch die T-Zellen die Stammzellen aktivieren, indem sie mit ihrem T-Zell-Rezeptor an die MHC-II-Moleküle binden. Die Kommunikation funktioniert also in beide Richtungen“, erklärt Pablo Hernández-Malmierca. „Die aktivierten Stammzellen teilen sich, aber es bleibt diesmal keine Tochterzelle als Stammzelle zurück, sondern beide Tochterzellen differenzieren sich weiter zu Blutzellen. Damit ist die Gefahr gebannt, dass die entarteten Stammzellen dauerhaft entartete Nachkommen hervorbringen.“
Lehrbuchwissen umgeschrieben
Auch bei Mäusen konnten die Wissenschaftler*innen zeigen, dass die Sicherheitskontrolle der Stammzellen über den MHC-II-Weg funktioniert. „Wir haben Mäuse gezüchtet, die zwei verschiedene Sorten von Stammzellen hatten: Eine Hälfte der Stammzellen war gesund, die andere Hälfte präsentierte auf ihrer Oberfläche Bruchstücke eines kranken Eiweiß über das MHC-II-Molekül. Nachdem wir den Mäusen T-Zellen verabreicht hatten, die das kranke Eiweiß mit ihrem T-Zell-Rezeptor erkannten, verschwanden die kranken Stammzellen nach und nach aus dem Knochenmark und nur gesunde Stammzellen blieben zurück. „Auf diese Weise konnten die Tiere vor der Entstehung von Leukämien geschützt werden“, erklärt Alexandra Schnell von der Harvard Medical School. Die Analyse von klinischen Daten zeigte, dass der neu entdeckte Mechanismus auch im Menschen dafür sorgt, dass erkrankte Stammzellen aussortiert und vor Entartung geschützt werden.
Simon Haas, dessen Arbeitsgruppe im gemeinsamen Forschungsfokus „Single Cell-Ansätze für die Personalisierte Medizin“ von BIH, Charité – Universitätsmedizin Berlin und MDC angesiedelt ist, ist begeistert, dass die neuen Technologien es ermöglichen, „Lehrbuchwissen umzuschreiben“. „Bislang galt es als ausgemacht, dass nur dendritische Zellen, Makrophagen und B-Zellen über MHC-II-Moleküle verfügen und Antigene präsentieren. Dass wir nun entdeckt haben, dass auch Blutstammzellen im Knochenmark über genau diesen Mechanismus mit T Zellen kommunizieren, ist für uns sehr überraschend und vermutlich auch für die Mehrzahl unserer Kolleginnen und Kollegen.“