Perfluorierte Chemikalien: Belastung wird unterschätzt

Neuartige umweltschädliche Substanzen in Flüssen nachgewiesen

27.04.2022 - Deutschland

Per- und polyfluorierte Chemikalien, kurz PFAS, können schädlich für Mensch und Umwelt sein. Trotzdem werden sie in unzähligen Alltagsprodukten eingesetzt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums Hereon haben gemeinsam mit einem internationalen Wissenschaftlerteam Wasserproben aus deutschen und chinesischen Flüssen untersucht. Das Besondere: Mit einer neuen Methode konnten sie an Industriestandorten – neben den bekannten – nun auch rund 60 üblicherweise nicht analysierte Substanzen aus der Gruppe der PFAS nachweisen. Davon wurden acht Substanzen vorher noch nicht in der Umwelt beschrieben. Die Studie ist im Journal Environmental Science & Technology erschienen.

Hereon/ Hanna Joerss

Die Proben wurden in Deutschland und China genommen, wie hier am Fluss Xiaoqing.

Per- und polyfluorierte Chemikalien, auch per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen genannt, besitzen zahlreiche Kohlenstoff-Fluor-Bindungen – die stärksten Bindungen in der organischen Chemie. Die Substanzen sind nicht nur außerordentlich stabil, sondern auch wasser-, fett- und schmutzabweisend – eine einzigartige Kombination. Seit den 1940er Jahren werden die PFAS in zahlreichen Alltagsprodukten eingesetzt: in Textilien, Kochgeschirr, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika und Medizinprodukten. Daneben gibt es vielfältige industrielle Anwendungen, zum Beispiel bei der Herstellung von Fluorpolymeren wie Teflon oder Gore-Tex.

Die Eigenschaften, die PFAS so attraktiv für Produkte und Konsumgüter machen, sind aber gleichzeitig problematisch für Mensch und Umwelt. Bei der Herstellung, Weiterverarbeitung, Anwendung und bei der Entsorgung der Produkte werden PFAS in die Umwelt eingetragen, in entlegene Regionen transportiert sowie in Organismen oder der Nahrungskette angereichert. Die bekanntesten Vertreter der PFAS, Perfluoroktansulfonsäure (PFOS) und Perfluoroktansäure (PFOA), können die Wirkung von Impfungen vermindern, die Infektneigung erhöhen und zu erhöhten Cholesterinwerten führen. In einer Studie des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2020 lag die PFOA-Konzentration in jeder fünften Blutprobe deutscher Kinder und Jugendlicher über dem HBM-I-Wert. Nur bei Unterschreitung dieses Wertes ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung auszuschließen. „Inzwischen sind PFOS und PFOA weltweit verboten, die Industrie nutzt dafür aber weitestgehend Ersatzstoffe. Diese sind für Mensch und Umwelt aber häufig genauso problematisch – wir sprechen von regrettable substitutes“, erklärt Dr. Hanna Joerss vom Hereon-Institut für Umweltchemie des Küstenraumes. Über klassische analytische Methoden konnten im Labor lange nur die Stoffe untersucht werden, deren Identität bekannt war und für die es Vergleichssubstanzen gab. Da die Industrie ihre Inhaltsstoffe aber selten offenlegt, standen Forschende meist vor dem Problem, dass sie nicht wussten, welche neuen PFAS nun im Umlauf sind.

Dark Matter, die große Unbekannte

„Bis vor Kurzem mussten wir im Vorfeld genau wissen, welche Stoffe wir nachweisen wollen“, sagt Joerss, Erst-Autorin der aktuellen Studie. „Wir haben nun eine neue Methode eingesetzt, die auch das sogenannte ‚Dark Matter‘, also die unbekannten Substanzen in den Proben, aufzeigt.“ Dafür hat das Team gemeinsam mit der Swedish University of Agricultural Sciences hochauflösende Massenspektrometer benutzt, mit denen sie Wasserproben aus deutschen und chinesischen Flüssen analysierten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in Kooperation mit dem Yantai Institute for Coastal Zone Research in China jeweils Proben vor und hinter den Abwassereinleitungen von PFAS-Erzeugern genommen.

Neuartige PFAS identifiziert

Ihr Ergebnis: „Wir haben 86 PFAS identifiziert – nur etwa 30 davon werden routinemäßig von darauf spezialisierten Laboren analysiert, acht haben wir erstmals in der Umwelt nachgewiesen“, erklärt Umweltchemikerin Joerss. „Unsere Methode zeigt klar: die Belastung von Mensch und Umwelt wird unterschätzt – wir haben bislang erst die Spitze des Eisbergs gesehen“. Im Fluss Xiaoqing und in der Alz konnten die Forschenden mit 63 und 59 PFAS die meisten Substanzen nachweisen. Dabei überwogen im Fluss Xiaoqing die inzwischen weltweit verbotene Substanz PFOA und üblicherweise nicht untersuchte PFAS wie chloriertes PFOA, das vermutlich als Nebenprodukt bei der PFOA-Produktion entsteht. Dagegen dominierten in den Alzproben Ersatzstoffe wie Hexafluorpropylenoxid-Dimersäure (HFPO-DA), 4,8-Dioxa-3H-Perfluornonansäure (ADONA) und das Abbauprodukt Perfluormethoxypropansäure (PFMOPrA), die auch zur Gruppe der PFAS gehören und einer genaueren Bewertung unterzogen werden sollten.

„Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Industrie, Wissenschaft und Regulierung: Die Industrie nutzt neue Substanzen, deren schädliche Auswirkungen wissenschaftlich nachgewiesen werden müssen, dann dauert es Jahre bis Jahrzehnte, bis die Stoffe reguliert werden“, sagt Joerss. Angesichts mehrerer tausend PFAS könnten immer wieder neue Ersatzstoffe eingesetzt werden. Deutschland und weitere Länder setzten sich im Rahmen des European Green Deals gerade dafür ein, dass die gesamte Gruppe der PFAS verboten werde. Die aktuelle Studie belegt, wie bedeutend dieser Umstand für die Umwelt ist.

Originalveröffentlichung

Weitere News aus dem Ressort Wissenschaft

Meistgelesene News

Weitere News von unseren anderen Portalen

Revolutioniert künstliche Intelligenz die Life Sciences?

Verwandte Inhalte finden Sie in den Themenwelten

Themenwelt Massenspektrometrie

Die Massenspektrometrie ermöglicht es uns, Moleküle aufzuspüren, zu identifizieren und ihre Struktur zu enthüllen. Ob in der Chemie, Biochemie oder Forensik – Massenspektrometrie eröffnet uns ungeahnte Einblicke in die Zusammensetzung unserer Welt. Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Massenspektrometrie!

3 Produkte
3 Broschüren
Themenwelt anzeigen
Themenwelt Massenspektrometrie

Themenwelt Massenspektrometrie

Die Massenspektrometrie ermöglicht es uns, Moleküle aufzuspüren, zu identifizieren und ihre Struktur zu enthüllen. Ob in der Chemie, Biochemie oder Forensik – Massenspektrometrie eröffnet uns ungeahnte Einblicke in die Zusammensetzung unserer Welt. Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Massenspektrometrie!

3 Produkte
3 Broschüren

Zuletzt betrachtete Inhalte

Stapediusreflex

Grippeimpfung zur Demenzprävention? - Studie generiert neue Hypothese

Grippeimpfung zur Demenzprävention? - Studie generiert neue Hypothese

Eine Senkung der täglichen Salzaufnahme um 1 g könnte in China fast 9 Millionen Fälle von Schlaganfall/Herzkrankheiten abwenden - Und 4 Millionen Menschenleben bis 2030 retten, so eine Modellstudie

Eine Senkung der täglichen Salzaufnahme um 1 g könnte in China fast 9 Millionen Fälle von Schlaganfall/Herzkrankheiten abwenden - Und 4 Millionen Menschenleben bis 2030 retten, so eine Modellstudie

Ölsäure

Neuromuskuläres 2D-Modell für die Wirkstoffforschung

Neuromuskuläres 2D-Modell für die Wirkstoffforschung

Nicotinsäure

Milchprodukte werden mit erhöhtem Krebsrisiko in Verbindung gebracht

Milchprodukte werden mit erhöhtem Krebsrisiko in Verbindung gebracht

Forscher wollen eine Art 'Coronavirus-Parasit' zu seiner Bekämpfung einsetzen - Projekt untersucht spezifische Formen von Coronavirus-Parasiten, um die Replikationsfähigkeit von SARS-CoV-2 zu beeinträchtigen und seine Eliminierung zu fördern

Forscher wollen eine Art 'Coronavirus-Parasit' zu seiner Bekämpfung einsetzen - Projekt untersucht spezifische Formen von Coronavirus-Parasiten, um die Replikationsfähigkeit von SARS-CoV-2 zu beeinträchtigen und seine Eliminierung zu fördern

Erkenntnisse darüber, wie das Gen YWHAZ die neuronale Entwicklung verändern kann - Innovative Techniken zur Untersuchung der Genetik des Autismus

Erkenntnisse darüber, wie das Gen YWHAZ die neuronale Entwicklung verändern kann - Innovative Techniken zur Untersuchung der Genetik des Autismus

Aktivierung von Rezeptoren für bitteren Geschmack könnte eines Tages Asthma und COPD behandeln - Überraschenderweise befinden sich Bitterrezeptoren nicht nur im Mund, sondern auch an anderen Stellen im Körper, unter anderem in den Atemwegen

Aktivierung von Rezeptoren für bitteren Geschmack könnte eines Tages Asthma und COPD behandeln - Überraschenderweise befinden sich Bitterrezeptoren nicht nur im Mund, sondern auch an anderen Stellen im Körper, unter anderem in den Atemwegen

Weglaufhaus

Fördermittel für Entwicklung einer kommerziellen, vollautomatischen additiven Fertigung von resorbierbaren medizinischen Implantaten - BellaSeno und Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie erhalten 1,4 Mio. Euro BMBF-Förderung

Fördermittel für Entwicklung einer kommerziellen, vollautomatischen additiven Fertigung von resorbierbaren medizinischen Implantaten - BellaSeno und Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie erhalten 1,4 Mio. Euro BMBF-Förderung