Einmalzahlung für Chemie-Beschäftigte
Die Gewerkschaft hatte Lohnsteigerungen oberhalb der Inflation gefordert, doch dann kam der Krieg: Er hat die Tarifverhandlungen auf den Kopf gestellt
(dpa) Der Krieg in der Ukraine hat auch die Tarifverhandlungen für rund 580.000 Beschäftigte in der deutschen Chemie- und Pharmabranche überschattet. Angesichts von Konjunkturrisiken, teurer Energie und eines möglichen Stopps russischer Gaslieferungen haben Gewerkschaft und Arbeitgeber einen Tarifabschluss mit dauerhaften Lohnzuwächsen gescheut. Sie einigten sich am Dienstag nach der zweiten Runde nur auf eine Einmalzahlung von 1400 Euro. Im Oktober sollen die Gespräche um tabellenwirksame Steigerungen weiter gehen, teilten beide Seiten in Wiesbaden mit. Bis dahin, so die Hoffnung, werde die Lage klarer sein.
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«Mit der Krisen-Brücke verschaffen wir Unternehmen und Beschäftigten eine dringend benötigte Atempause», sagte Hans Oberschulte, Verhandlungsführer für den Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC). «Das ist die richtige Antwort auf die maximale Unsicherheit, die wir seit Putins Invasion erleben.» Tarifverhandlung inmitten solcher Umstände habe es in der Branche noch nie gegeben. Auch Ralf Sikorski, Verhandlungsführer der IG BCE, bezeichnete die Lage als «Ausnahmesituation». Der gefundene Kompromiss sei alles andere als die Wunschvorstellung der Gewerkschaft, verschaffe aber Zeit.
Konkret soll die Einmalzahlung von 1400 Euro spätestens im Mai fällig werden, sie fließt nicht dauerhaft in die Tariftabellen ein. In Unternehmen mit wirtschaftlichen Nöten kann demnach die Zahlung auf 1000 Euro gekürzt werden - etwa bei einem Verlust 2021 oder einer niedrigen Umsatzrendite im vergangenen oder laufenden Jahr. Auszubildende sollen laut der Angaben einmalig 500 Euro erhalten. Der Kompromiss gilt für 1900 Betriebe in der Branche. Bis Oktober sollen die bisherigen Entgelttabellen unverändert weiter gelten.
Nach Angaben der IG BCE entspricht die Einmalzahlung im Schnitt über alle Entgeltgruppen einer Steigerung von 5,3 Prozent. Davon profitierten niedrigere Lohngruppen überdurchschnittlich, betonte der Gewerkschaftsvorsitzende Michael Vassiliadis. «Sie sind es, die besonders unter den aktuellen Preisschüben leiden.»
Zudem einigten sich IG BCE und BAVC darauf, die Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtschichten ab Juli auf einheitlich 20 Prozent festzulegen. Bislang lagen diese bei 15 bzw. 20 Prozent. Die IG BCE hatte hier 25 Prozent gefordert.
Die Chemie- und Pharmaindustrie mit Konzernen wie BASF, Bayer, Merck, und Boehringer Ingelheim ist nach dem Auto- und Maschinenbau die drittgrößte Industriebranche in Deutschland. Sie erzielte 2021 laut dem Branchenverband VCI einen Rekordumsatz von 225 Milliarden Euro. Allerdings ist gerade die Chemieindustrie, die Kunden in der Auto-, Bau-, Kosmetik- und Elektronikbranche beliefert, stark von der Weltkonjunktur abhängig. Und mit dem Krieg in der Ukraine ist die Erholung der Branche von der Corona-Pandemie plötzlich gekippt. Die rasant gestiegenen Öl-, Strom- und Gaspreise treffen die energieintensive Chemie- und Pharmaindustrie empfindlich.
Sollten insbesondere Gaslieferungen aus Russland ausbleiben, wäre das für die Branche ein Horrorszenario: Sie setzt Erdgas im großen Stil als Rohstoff und zur Erzeugung von Dampf und Strom ein. Sollte Energie aus Russland nicht mehr fließen, stünden die Chemieanlagen früher oder später still, warnt die Branche immer wieder.
Der Krieg in der Ukraine hatte auch die Tarifforderung der IG BCE unhaltbar gemacht. Sie hatte ursprünglich einen Lohnzuwachs oberhalb der Inflation verlangt. Seither sind die Verbraucherpreise in Deutschland rasant geklettert, der Krieg heizte die Energiepreise an - im März lag die Inflationsrate bei 7,3 Prozent. Lohnsteigerungen darüber wären zu einer immensen Bürde für die Arbeitgeber geworden.
«In dieser Zeit großer Unsicherheit für Beschäftigte wie Unternehmen mussten wir eine Lösung finden, die Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbindet», sagte IG-BCE-Chef Vassiliadis.
Andere Themen gerieten bei der bedrückenden Gemengelage in den Hintergrund, sind für Branche aber ebenfalls wichtig. So wollen Gewerkschaft und Arbeitgeber Auszubildende mit pandemiebedingten Lernrückständen besonders fördern, vorgesehen ist ein drei Millionen Euro schweres Programm. Denn in der Chemie ist der Mangel an jungen Fachkräften gerade in kleineren Firmen örtlich beträchtlich. Für Altersfreizeiten soll es ferner mehr Flexibilität geben und die betriebliche Altersvorsorge über ein neues Modell attraktiver werden.
Aber selbst der Krieg in der Ukraine soll die Gewerkschaft nicht von ihren Vorhaben abbringen, wie Vassiliadis betonte. «Unser Ziel bleibt die dauerhafte Steigerung der Entgelte noch in diesem Jahr.»