Immunzellen außer Kontrolle
Wie ein neuer Gendefekt zu massiv überschießender Immunreaktion führt
St. Anna Kinderkrebsforschung
Im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit finden Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung eine neue Entstehungsform einer Erkrankung namens familiäre hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH). Die familiäre oder genetisch bedingte HLH, die meist in der frühen Kindheit auftritt, ist eine der dramatischsten hämatologischen Erkrankungen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Immunzellen, nämlich T-Lymphozyten und natürliche Killerzellen (NK) nicht mehr fähig sind, eine z.B. von Viren infizierte Zielzelle abzutöten. In der Folge kann der Körper biologische Botenstoffe (sogenannte Zytokine) ausschütten, die eine massive Immunaktivierung und überschießende Abwehrreaktion (=Hyperinflammation) im gesamten Körper hervorrufen. "Unbehandelt kann die mit HLH verbundene Hyperinflammation in kurzer Zeit tödlich sein", sagt Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug, wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung und Seniorautor der Studie.
Bis vor kurzem waren vier Subtypen der familiären HLH bekannt. Sie werden durch Mutationen in Genen verursacht, die an der Regulierung der Immunabwehr beteiligt sind. „Jetzt haben wir einen neuen Typ dieser Krankheit entdeckt, der durch vererbte Mutationen in dem Gen verursacht wird, das für das Protein RhoG kodiert", erklärt der Erstautor der Studie, Dr. Artem Kalinichenko, der als Senior Postdoc an der St. Anna Kinderkrebsforschung und dem Ludwig Boltzmann Institut für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen (LBI-RUD) forscht.
Das Forschungsteam zeigt, wie ein Mangel an RhoG spezifisch die zytotoxische Funktion von T-Lymphozyten und NK-Zellen beeinträchtigt. Das führt zu deren unkontrollierter Aktivierung und verursacht letztlich HLH.
Insbesondere beeinträchtigt der RhoG-Mangel den Prozess der Exozytose in bestimmten Immunzellen und setzt deren Tötungsfähigkeit außer Kraft. So nutzen Immunzellen wie T- und NK-Zellen die Exozytose zur Freisetzung zytotoxischer Moleküle, um infizierte oder Tumorzellen anzugreifen und abzutöten. Wenn der RhoG-Mangel diese Funktion in Immunzellen lahmlegt, können sie ihre Zielzellen nicht wie vorgesehen abtöten. "Welche Rolle dies für eine Neigung zur Entwicklung von Krebs hat, werden wir noch detaillierter untersuchen ", sagt Kalinichenko.
RhoG reguliert die Fähigkeit von Zellen, Erreger abzutöten
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Säugling, der im Alter von vier Monaten eine schwere HLH entwickelte. Während die Krankheit mit einer gestörten Zytotoxizität von T- und NK-Zellen einherging, wurden keine Mutationen in bekannten HLH-assoziierten Genen gefunden. Weitere genetische Analysen ergaben aber gesundheitsschädliche Mutationen in dem Gen, das für RhoG kodiert. Durch experimentelles Ausschalten von RhoG im Labor bestätigten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die bisher unbekannte Rolle von RhoG bei der zytotoxischen Funktion menschlicher Lymphozyten. Trotz einer drastischen und spezifischen Auswirkung auf die zytotoxische Funktion beeinträchtigt der RhoG-Mangel keine anderen Funktionen der Immunzellen, die für die Krankheitsentwicklung eine Rolle spielen.
"In unserer Studie entdeckten wir eine zentrale Rolle der RhoG-Interaktion mit einem Exozytose-Protein namens Munc13-4, das für die Verankerung der zytotoxischen Granula an der Plasmamembran essenziell ist", erklärt Boztug. Dieses Andocken ist ein kritischer Schritt in der Exozytose. Es ist notwendig für die weitere Fusion der Vesikel mit der Plasmamembran und die Freisetzung der zytotoxischen Granula.
"Unsere Studie identifiziert RhoG als einen neuen essenziellen Regulator der humanen Lymphozyten-Zytotoxizität und liefert den molekularen Pathomechanismus hinter dieser bisher unbekannten genetisch bedingten Form der hämophagozytären Lymphohistiozytose", resümiert Boztug.
Schnelleres Screening für Patienten
"Wir hoffen, dass unser Verständnis der molekularen Pathomechanismen von HLH langfristig die Behandlung der Krankheit und die Prognose verbessern kann", sagt Boztug. Als kurzfristige Konsequenz kann der hier entdeckte RhoG-Mangel HLH-Patientinnen und -Patienten eine raschere genetische Diagnose ermöglichen.
Diese Studie ist ein spannender Durchbruch, der neue wichtige wissenschaftliche Fragen aufwirft. "Die Entdeckung des RhoG-Mangels hat neue Einblicke in die molekularen Funktionen dieses Proteins eröffnet und hochrelevante Fragen aufgeworfen. Wir haben herausgefunden, dass RhoG sowohl das 'Zell-Skelett' als auch die Exozytose-Maschinerie reguliert. Jetzt sind wir sehr daran interessiert zu erfahren, wie RhoG deren Aktivität in Raum und Zeit koordiniert und was das für Konsequenzen hat", sagt Kalinichenko.