Ein Gedächtnis ohne Gehirn
Wie ein einzelliger Schleimpilz ohne zentrales Nervensystem kluge Entscheidungen trifft
Bilderfest / TUM
Bjoern Kscheschinski / MPIDS
Die Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, verschafft einem Organismus einen klaren Vorteil bei der Nahrungssuche oder bei der Vermeidung von Gefahren. Bislang wird sie aber nur mit Organismen in Verbindung gebracht, die ein Nervensystem besitzen.
Doch auch der einzellige Schleimpilz Physarum polycephalum hat diese Fähigkeit entwickelt und kann damit Informationen über seine Umgebung speichert und nutzen, wie Mirna Kramar (MPI-DS) und Prof. Karen Alim (TUM und MPI-DS) in einer nun in den Proceedings of the National Academy of Science (PNAS) veröffentlichten Studie herausfanden.
Fenster in die Vergangenheit
Physarum polycephalum fasziniert Forschende seit Jahren. An der Grenze zwischen Tier-, Pflanzen-und Pilzreich gelegen, bietet dieser einzigartige Organismus Einblicke in die frühe Evolutionsgeschichte der Eukaryonten, zu denen auch wir Menschen gehören.
Sein Körper ist eine riesige Einzelzelle, die aus miteinander verbundenen Röhren besteht. Sie bilden ein faszinierendes Netzwerk, das mehrere Zentimeter oder sogar Meter groß werden kann, was ihm im Guinness-Buch der Rekorde den Titel als größte Zelle der Erde einbrachte.
Seine ausgeklügelten Fähigkeiten, sein röhrenförmiges Netzwerk an eine sich ändernde Umgebung anzupassen, brachte ihm das Attribut „intelligent“ ein. Er nutzt dieses Netzwerk als Gedächtnis – auch ohne über ein Nervensystem oder ein organisierendes Zentrum zu verfügen.
Wie die beiden Forscherinnen herausfanden, webt der Organismus Erinnerungen an Nahrungsorte direkt in die Architektur des netzwerkartigen Körpers ein und nutzt die damit gespeicherten Informationen bei zukünftigen Entscheidungen.
Speicherung der Erinnerung im Netzwerk
„Es ist sehr aufregend, wenn sich ein Projekt aus einer einzigen experimentellen Beobachtung entwickelt“, sagt Karen Alim, Leiterin der Forschungsgruppe Biologische Physik und Morphogenese am MPI-DS in Göttingen und Professorin für die Theorie biologischer Netzwerke an der TU München.
Als die Forscherinnen die Fortbewegung und die Nahrungsaufnahme des Organismus verfolgten, fanden sie einen deutlichen Abdruck der Nahrungsquellen im Muster der dickeren und dünneren Röhren des Netzwerks, der auch lange nach der Nahrungsaufnahme noch beobachtbar war.
„Angesichts der schnellen Reorganisation des Netzwerks von P. polycephalum“, sagt Karen Alim, „weckte die Persistenz dieses Abdrucks bei uns die Idee, dass die Netzwerkarchitektur selbst als Gedächtnis der Nahrungsorte dienen könnte. Allerdings mussten wir zunächst den Mechanismus entschlüsseln, der hinter der Bildung der Netzwerkmusters steckt.“
Erinnerungen fließen in Entscheidungen ein
Dazu kombinieren die Forscherinnen mikroskopische Beobachtungen der Anpassungen des röhrenförmigen Netzwerks mit theoretischer Modellierung. Ein Kontakt mit Nahrung löst im Inneren der Zelle die Freisetzung einer Chemikalie aus, die sich vom Fundort der Nahrung durch den gesamten Organismus bewegt und die Röhren im Netzwerk weicher macht, so dass sich der Organismus neu auf die Nahrung ausrichtet.
„Dort wo die Röhren allmählich weicher werden, kommen auch die noch vorhandenen Abdrücke früherer Nahrungsquellen ins Spiel. Dort wird die gespeicherte Information abgerufen“, sagt Mirna Kramar, Erstautorin der Studie. „Vergangene Nahrungsaufnahmen sind in die Hierarchie der Röhrendurchmesser eingebettet, konkret in der Anordnung von dicken und dünnen Röhren im Netzwerk.“
Für die nun transportierte Weichmacher-Chemikalie wirken die dicken Röhren im Netzwerk wie Autobahnen im Verkehrsnetz und ermöglichen einen schnellen Transport durch den gesamten Organismus. Allerdings fließen auch frühere Nahrungsorte, die in der Netzwerkarchitektur eingeprägt sind, in die Entscheidung über die künftige Bewegungsrichtung mit ein, wie die Forscherinnen herausfanden.
Design auf Basis universeller Prinzipien
Die Fähigkeit von Physarum, Erinnerungen zu bilden, ist angesichts der Einfachheit dieses lebenden Netzwerks verblüffend. „Es ist bemerkenswert, dass der Organismus einen so einfachen Mechanismus verwendet und ihn dennoch auf so fein abgestimmte Weise kontrolliert“, sagt Karen Alim.
„Das stellt ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis des Verhaltens dieses uralten Organismus dar und weist darauf hin, dass dem Verhalten von Lebewesen universelle Prinzipien zugrunde liegen. Wir sehen mögliche Anwendungen dieser Erkenntnisse bei der Entwicklung von intelligenten Materialien und dem Bau von weichen Robotern, die durch komplexe Umgebungen navigieren“, schließt Karen Alim.