Wie sich Zellen bewegen und warum sie nicht kleben bleiben
Neue Erkenntnisse für Entwicklungsbiologie und potenzielle Krebstherapien
AG Rädler, Ludwig-Maximilians-Universität München
Die Zellgeschwindigkeit als Maß dafür, wie schnell sich eine Zelle bewegt, hängt bekanntermaßen von den Adhäsions- oder Haftungseigenschaften ihres Untergrundes ab, doch die genauen Mechanismen dieses Zusammenhangs sind seit Jahrzehnten ungeklärt. Nun haben Forschende des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München die Mechanik zellulärer Bewegungen genauer untersucht und ein mathematisches Modell entwickelt, das die dabei wirkenden Kräfte erfassen kann. Die Untersuchungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht und enthalten neue Erkenntnisse für die Entwicklungsbiologie und potenzielle Krebstherapien.
Die Zellmigration ist ein fundamentaler Vorgang, der insbesondere in der Entwicklung eine wesentliche Rolle spielt, wenn sich Zellen in ihren Zielzelltyp ausdifferenzieren und zum Zielgewebe bewegen. Auch bei der Wundheilung bewegen sich Zellen, und Krebszellen metastasieren im Körper, indem sie zum nächstgelegenen Blutgefäß migrieren.
„Mit dem mathematischen Modell, das wir entwickelt haben, können Forscher*innen nun vorhersagen, wie sich verschiedene Zellen auf unterschiedlichen Substraten verhalten werden“, erläutert Professor Martin Falcke, der die AG für mathematische Zellphysiologie am MDC leitet und mitverantwortlich für die Untersuchung war. „Wenn wir diese grundlegenden Bewegungen im Detail verstehen, haben wir möglicherweise neue Ansatzpunkte, an denen wir Tumormetastasen unterbinden können.“
Neue Erkenntnisse durch Teamarbeit
Die neuen Erkenntnisse sind der Zusammenarbeit experimenteller Physiker an der LMU mit theoretischen Physikern des MDC zu verdanken. Erstere untersuchten unter der Leitung von Professor Joachim Rädler, wie schnell sich über 15.000 Krebszellen auf engen Bahnen auf einer teils stark, teils schwach haftenden Oberfläche bewegten. So konnten sie beobachten, was passiert, wenn eine Zelle von einem Abschnitt mit bestimmten Haftungseigenschaften auf einen Abschnitt mit anderen Eigenschaften übergeht, was den dynamischen Bedingungen im Organismus nahekommt.
Falcke und Behnam Amiri, einer der Co-Erstautoren der Studie und Doktorand in Falckes Arbeitsgruppe, entwickelten anhand der umfangreichen gesammelten Daten eine mathematische Gleichung, die die Faktoren der Zellbeweglichkeit einschließt.
„Frühere mathematische Modelle, welche die Migration und Beweglichkeit von Zellen zu erklären versuchen, sind hochspeziell, lassen sich also nur auf einzelne Merkmale oder Zelltypen anwenden“, so Amiri. „Wir wollten dagegen ein möglichst einfaches und allgemeingültiges Modell schaffen.“
Der Ansatz funktionierte sogar besser als erwartet: Das Modell entsprach den an der LMU gesammelten Daten und traf auch auf Messungen zu, die in den letzten 30 Jahren für diverse andere Zelltypen durchgeführt wurden. „Das ist spannend“, freut sich Falcke. „Selten hat man eine Theorie, die eine derart große Bandbreite an experimentellen Ergebnissen bestätigt.“
Reibung als zentrale Einflussgröße
Bei der Migration stülpt die Zelle ihre Membran in Bewegungsrichtung aus, wobei sich ein Netzwerk aus Aktinfilamenten in ihrem Inneren ausdehnt. Danach löst sich das hintere Ende der Zelle ab. Die Geschwindigkeit dieses Vorgangs hängt von den Adhäsionsbindungen ab, die zwischen der Zelle und deren Untergrund entstehen. Bestehen keine solche Bindungen, ist praktisch keine Zellbewegung möglich, da sich das Aktinnetzwerk nirgendwo abstoßen kann. Der Grund dafür ist Reibung: „Mit Schlittschuhen unter den Füßen kann man kein Auto anschieben, das ist nur möglich, wenn die Reibungskraft zwischen den Schuhen und dem Boden ausreichend groß ist“, erklärt Falcke.
Je größer die Zahl der Bindungen und damit die Reibung ist, desto mehr Kraft kann die Zelle aufbringen und desto schneller kann sie sich bewegen. Wird der Untergrund allerdings zu klebrig, kann sich das hintere Ende der Zelle nicht mehr so leicht ablösen, was die Zellmigration wieder verlangsamt.
Langsam, aber unaufhaltsam
Die Wissenschaftler untersuchten auch, was bei unterschiedlichen Adhäsionseigenschaften im vorderen und hinteren Bereich der Zelle geschieht. Besonders interessant war die Frage, wie sich die Zelle verhält, wenn die Adhäsion am hinteren Ende der Zelle größer ist als im vorderen Bereich. Dies könnte dazu führen, dass die Zelle kleben bleibt, weil sie nicht genug Kraft aufbringen kann, um sich hinten abzulösen.
Mit diesem Effekt wäre möglicherweise zu rechnen gewesen, wenn die Adhäsionskräfte ähnlich einer Schraube wirken würden, die die Zelle direkt mit ihrem Substrat verbindet. Diese „elastische“ Kraft berücksichtigten auch Falcke und Amiri zunächst in ihrem Modell, doch die Gleichung ging letztlich nur mit Reibungskräften auf.
Für Falcke „war der schwierigste Teil, einen Mechanismus zu verstehen, der nur mit Reibungskräften arbeitet“, denn in diesem Fall gibt es nichts, woran die Zelle fest anhaften könnte. Tatsächlich sind es jedoch reibungsartige Kräfte, die es der Zelle ermöglichen, sich fortzubewegen, auch wenn die Bindungen hinten stärker sind als vorne. Die Zelle schält sich dann langsam ab, vergleichbar mit Klebeband. „Selbst wenn man nur mit wenig Kraft am Klebeband zieht, kann man es abziehen – es löst sich dann sehr langsam, aber geht dennoch ab“, fasst Falcke zusammen. „Aus diesem Grund bleibt die Zelle auch nicht kleben.“
Als Nächstes untersucht das Team zweidimensionale Zellbewegungen, etwa bei abrupten Rechts- oder Linkskurven oder bei Wendemanövern.