Das überraschende Dehnverhalten der DNA

Was passiert, wenn man an einem DNA-Molekül zieht? Es verhält sich dabei ganz anders als wir es von makroskopischen Objekten gewohnt sind

06.08.2020 - Österreich

Wenn große Kräfte auf einen Balken einwirken, etwa im Brückenbau, dann wird sich der Balken ein bisschen verformen. Die Zusammenhänge zwischen Kräften, inneren Spannungen und Verformungen zu berechnen, gehört zu den Standardaufgaben im Bauingenieurwesen. Aber was passiert, wenn man diese Überlegungen auf winzige Objekte anwendet – etwa auf eine einzelne DNA-Doppelhelix?

Technische Universität Wien

Johannes Kalliauer

Experimente mit DNA-Molekülen zeigen, dass sie völlig andere mechanische Eigenschaften haben als makroskopische Objekte – und das hat wichtige Konsequenzen für die Biologie und die Medizin. An der TU Wien gelang es nun, diese Eigenschaften genau zu erklären, durch eine Kombination von Ideen aus dem Bauingenieurwesen und der Physik.

Unerwartetes Verhalten auf Molekül-Ebene

Auf den ersten Blick könnte man die DNA-Doppelhelix für eine winzig kleine Feder halten, die man einfach dehnen und stauchen kann, wie man das auch von gewöhnlichen Sprungfedern kennt. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht: „Wenn man ein DNA-Stück langzieht, würde man eigentlich erwarten, dass dabei die Zahl der Windungen abnimmt. Doch in bestimmten Fällen ist das Gegenteil der Fall: Wenn die Helix länger wird, dreht sie sich manchmal noch mehr ein“, sagt der Bauingenieur Johannes Kalliauer vom Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen der TU Wien. „Außerdem sind DNA-Moleküle viel dehnbarer als die Materialien, mit denen wir im Bauingenieurwesen sonst zu tun haben: Sie können unter Zugspannung um 70% länger werden.“

Für Biologie und Medizin sind diese seltsamen mechanischen Eigenschaften der DNA von großer Bedeutung: „Wenn die Erbinformation vom DNA-Molekül abgelesen wird, kann es von den Details der Geometrie abhängen, ob es zu einem Lesefehler kommt, der im schlimmsten Fall sogar Krebs auslösen kann“, sagt Johannes Kalliauer. „Bisher musste man sich in der Molekularbiologie mit empirischen Methoden zufriedengeben, um den Zusammenhang zwischen Kräften und Geometrie der DNA zu erklären.“

In seiner Dissertation ging Johannes Kalliauer dieser Sache auf den Grund – und zwar in Form einer eher ungewöhnlichen Fächerkombination: Seine Arbeit wurde einerseits vom Bauingenieur Prof. Christian Hellmich betreut, andererseits auch von Prof. Gerhard Kahl vom Institut für Theoretische Physik.

„Wir verwendeten Methoden der Molekulardynamik, um das DNA-Molekül am Computer auf atomarer Skala nachzubilden“, erklärt Kalliauer. „Man legt fest, wie die DNA-Helices gestaucht, gedehnt oder verdreht werden – und dann ermittelt man, welche Kräfte auftreten, und in welche Endposition die Atome schließlich gelangen.“ Solche Rechnungen sind sehr aufwändig und nur mit Hilfe großer Supercomputer möglich – Johannes Kalliauer verwendete dafür den Vienna Scientific Cluster (VSC).

So konnte man die merkwürdigen experimentellen Befunde erklären – etwa das kontraintuitive Ergebnis, dass sich die DNA in bestimmten Fällen bei Dehnung noch mehr eindreht. „Auf großer Skala kann man sich das schwer vorstellen, aber auf Ebene der Atome ergibt das plötzlich Sinn“, sagt Johannes Kalliauer.

Seltsame Zwischenwelt

Im Rahmen der atomaren Modelle der theoretischen Physik kann man interatomare Kräfte und Abstände ermitteln. Mit bestimmten Regeln, die das Team basierend auf Prinzipien aus dem Bauingenieurwesen entwickelte, kann man daraus dann die relevanten Kraftgrößen ermitteln, die man benötigt, um den DNA-Strang als Ganzes zu beschreiben – ähnlich wie man die Statik eines Balkens im Bauingenieurwesen mithilfe einiger wichtiger Querschnittseigenschaften beschreiben kann.

„Wir bewegen uns hier in einer interessante Zwischenwelt, zwischen dem Mikroskopischen und dem Makroskopischen“, sagt Johannes Kalliauer. „Das Besondere an diesem Forschungsprojekt ist, dass man wirklich beide Sichtweisen benötigt und sie miteinander verbinden muss.“

Diese Kombination deutlich unterschiedlicher Größenskalen spielt am Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen immer wieder eine zentrale Rolle. Schließlich werden die Materialeigenschaften, die wir täglich im großen Maßstab spüren, immer vom Verhalten auf der Mikroebene bestimmt. Die aktuelle Arbeit, die nun im „Journal of the Mechanics and Physics of Solids“ publiziert wurde, soll einerseits zeigen, wie man das Große und das Kleine auf wissenschaftlich exakte Weise miteinander verbinden kann, und andererseits helfen, das Verhalten der DNA besser zu verstehen – bis hin zur Erklärung von Erbkrankheiten.

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