Die wundersame Reise kleiner RNA-Stücke

Kurze doppelsträngige RNA-​Schnipsel sind die Kuriere, welche die RNA-​Interferenz über weite Entfernung übermitteln

29.07.2020 - Schweiz

Schon seit längerem ist bekannt, dass die RNA-​Interferenz Gene in entfernten Zellen stummschaltet. Nun weisen ETH-​Forscher erstmals eindeutig nach, dass kurze doppelsträngige RNA-​Schnipsel die Kuriere sind, welche die RNA-​Interferenz über weite Entfernung übermitteln.

Kleine RNA-​Stücke spielen in den meisten Lebewesen eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Genen, indem sie diese stummschalten. Sie tun dies, indem sie hochspezifisch an gewisse Sequenzen von Gen-​Transkripten, also ebenfalls RNA-​Moleküle, andocken. Damit verhindern sie, dass die Zellmaschinerie anhand dieser RNA-​Moleküle Proteine herstellt. RNA-​Interferenz (RNAi) wird dieser Mechanismus genannt, und er ist in der Biologie überaus wichtig.

Das Phänomen der RNAi zeigt sich jedoch nicht nur in einer Zelle. Sie kann sich auch weit entfernt von der Ausgangszelle in anderen Geweben und Organen manifestieren. Forscher haben dies vor allem in Pflanzen, aber auch in niederen Tieren wie dem Fadenwurm C. elegans nachweisen können.

Proteine und DNA sind ausgeschlossen

Unbeantwortet blieb bislang aber die Frage, welchem Botenstoff es möglich ist, quer durch Zellen und Gewebe hindurch zu reisen. «Proteine konnten wir schon vor 20 Jahren ausschliessen, als entdeckt wurde, dass in Pflanzen RNAi übermittelbar ist», sagt Olivier Voinnet, Professor für RNA-​Biologie an der ETH Zürich. RNAi erfordere, dass ein Bote sequenzspezifisch an das stummzuschaltende Gen-​Transkript andocken kann. Proteine hätten diese Fähigkeit nicht. Auch dass DNA aus dem Zellkern herauskomme, sei unwahrscheinlich. «Der wahrscheinlichste Kandidat war schon immer ein RNA-​Molekül», erklärt Voinnet. Bis heute blieb allerdings unklar, welche Art und Formen von RNA – ob lang oder kurz, einzel-​ oder doppelsträngig, an Proteine gebunden oder ungebunden – in Pflanzen RNAi hervorruft.

Doppelstrang-​Schnipsel reisen weit

Nun aber lüften der ETH-​Professor und sein Team den Schleier. Die ETH-​Forscher können erstmals eindeutig nachweisen, dass kurze doppelsträngige RNA-​Stücke diese Boten sind. Sie bestehen aus Paaren von nur 21 bis 24 RNA-​Grundbausteinen und werden «small interfering RNAs» (siRNA) genannt. Die neue Studie ist soeben in der Fachzeitschrift «Nature Plants» erschienen.

Verschiedenartige siRNA entstehen in der Regel sehr zahlreich aus dem Erbgut von Viren, die eine Zelle infiziert haben. Aber auch zelleigene Gene oder Gensequenzen dienen als Bauanleitung für diese Botenmoleküle. Dadurch können Zellen über den Weg der RNAi nicht nur eindringende Viren, sondern auch eigene Gene stummschalten. Und gerade weil die RNAi mobil ist, haben Pflanzen die erstaunliche Fähigkeit, Gene und deren Umsetzung in Proteine zellübergreifend auf Distanz regulieren zu können. Dies könnte für Pflanzen als an einen Ort gebundene Lebewesen besonders wichtig sein, um ihr Wachstum kontinuierlich anzupassen, was «phänotypische Plastizität» genannt wird.

Wandern oder nicht wandern

In ihrer neuen Studie schlossen die Forscher zudem aus, dass sich andere Arten von Nukleinsäuren oder Komplexe von RNA und Proteinen durch Pflanzenzellen bewegen. «Wir können definitiv beweisen, dass doppelsträngige siRNA notwendig und hinreichend sind, um RNAi in entfernten Zellen und Geweben von Pflanzen zu bewirken», sagt Voinnet.

Die ETH-​Forscher bestimmten jedoch nicht nur die schwer fassbaren siRNA-​Kuriere. In ihrer Studie zeigen sie auch auf, wie die siRNA sich bewegen und wie sie ihre Funktion ausüben kann: Solange ein siRNA-​Molekül als freier Doppelstrang vorliegt, ist es mobil, weil es in dieser Form nicht an ein passendes, komplementäres RNA-​Transkript binden kann. Um dies zu tun, muss die siRNA zunächst in ein spezifisches Argonaut-​Effektorprotein (AGO) «geladen» werden. Erst die korrekte Kombination aus richtigem AGO-​Protein und passender siRNA kann das Zieltranskript stummschalten, wobei die entsprechende siRNA vernichtet wird.

Die für die Studie verwendete Modellpflanze besitzt zehn verschiedene AGO-​Proteine, von denen einige jeweils nur ausgewählte siRNA-​Fragmente anhand spezifischer Signaturen erkennen.

AGO-​Proteine Bewegungsmuster der siRNA

Das hat eine weitere Konsequenz. Verschiedene AGO-​Proteine kommen in unterschiedlichen Zellen und Geweben vor. Die ETH-​Forschenden fanden heraus, dass sich passende AGO-​Proteine schon in der Ursprungszelle mit einem Teil der siRNA beladen und diese verbrauchen. Der nicht geladene Teil der siRNA-​Moleküle kann die Zelle verlassen.

Abhängig von der An- oder Abwesenheit bestimmter AGO-​Proteine innerhalb der Zellen, die von den mobilen siRNAs durchquert werden, werden die Moleküle somit verbraucht oder nicht. Wenn zum Beispiel eine Fülle von AGO-​Proteinen vorhanden ist, fangen sie viele siRNAs mit verschiedenen Signaturen ein - und stoppen deren Reise. Enthält aber eine Zelle kaum AGOs, dann werden die meisten siRNAs die Zelle verlassen und grössere Entfernungen im Organismus zurücklegen.

Enthält eine Zelle schliesslich grosse Mengen von nur einem spezifischen AGO, werden nur die siRNAs mit der passenden Signatur verbraucht, während die übrigen weiterwandern. Mit anderen Worten: siRNA-​Moleküle werden auf ihrem Weg durch das Pflanzengewebe selektiv gefiltert und verbraucht.

Grenzenlose Vielseitigkeit der mobilen RNAi

«Die Menge und Vielfalt der AGO-​Proteine in durchquerten Zellen stellen eine Art Molekularsieb für siRNA dar. Die Form dieses Siebs kann sich von Zelltyp zu Zelltyp entlang des Weges der siRNA-​Moleküle unterscheiden, und je nachdem wie die Siebe konfiguriert sind, können verschiedenste siRNA-​Bewegungsmuster erzeugt werden», erklärt Voinnet. Noch interessanter sei, dass Stress oder Entwicklungssignale die Bildung von einigen AGOs anstossen, so dass sich die räumliche Konfiguration des Siebes jederzeit ändern und weiterentwickeln könne.

Die unzähligen Bewegungsmuster verleihen dem System der mobilen RNAi innerhalb der Pflanze eine fast grenzenlose Flexibilität und Vielseitigkeit bei der Gestaltung der Genexpression, also dem Ablesen von Genen und dem Übersetzen des Transkriptes in Proteine.

Die Forscher hoffen nun, diese neuen Erkenntnissen auch für praktische Anwendungen nutzen zu können. So sind sie daran, auf AGOs basierende, künstliche Molekülsiebe für Pflanzenzellen zu entwickeln. Damit liesse sich präzise einstellen, wann und wo sich welche siRNA-​Moleküle bewegen können. Denkbar ist, dass diese Methode eines Tages in der Agrarwirtschaft verwendet werden kann.

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