Wirkstoffe aus Kieler Meeresalgen als Mittel gegen Infektionen und Hautkrebs entdeckt

Methoden der Bioinformatik und des maschinellen Lernens für marine Wirkstoffforschung genutzt

06.07.2020 - Deutschland

Meeresorganismen und ihre mikrobiellen Symbionten sind unschätzbare Quellen für neue Medikamente gegen menschliche Erkrankungen. Marine Naturstoffe haben ein viermal höheres Potenzial für die Arzneistoff-Entwicklung als andere natürliche oder synthetische Verbindungen. Allerdings ist der Entdeckungs- und Entwicklungsprozess meist langwierig, riskant und kostspielig. Mit Hilfe modernster analytischer Ansätze in Verbindung mit Bio- und Chemieinformatik sowie des maschinellen Lernens ist Wissenschaftlern am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel die Entdeckung neuer, bioaktiver Bestandteile des auch in der Ostsee beheimateten Blasentangs Fucus vesiculosus und eines Pilzsymbionten gegen infektiöse Bakterien bzw. Hautkrebs gelungen.

Johanna Silber GEOMAR

Bicheng Fan im Labor

Heilung mit Hilfe von Meeresorganismen ist keine Utopie. Bereits 12 lebensrettende Medikamente, z.B. gegen Krebs, wurden aus Meeresorganismen und ihren Symbionten entwickelt. Ihrem hohen Potenzial für die Arzneimittelentwicklung steht allerdings der oft langwierige und kostspielige Entdeckungs- und Entwicklungsprozess entgegen. Wissenschaftler der Forschungseinheit Marine Naturstoffchemie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel haben jetzt, unterstützt durch computergestützte automatisierte Ansätze, in einer aus der Kieler Förde stammenden Alge und ihren Pilzsymbionten erfolgreich potenzielle Heilmittel gegen Infektionen und Hautkrebs entdeckt.

Die Suche nach marinen Wirkstoffen beginnt mit der Extraktion von marinen Makro- und Mikroorganismen, gefolgt von der Reinigung und Charakterisierung ihrer neuen und bioaktiven chemischen Inhaltsstoffe, die der Entwicklung neuer Therapeutika dienen sollen. „Einer der größten Fallstricke in der Wirkstoffforschung ist die Isolierung bereits bekannter natürlicher Moleküle mit Hilfe klassischer so genannter bioaktivitäts-geleiteter Isolierungsverfahren“, erläutert Prof. Dr. Deniz Tasdemir, Leiterin der Forschungseinheit Marine Naturstoffchemie am GEOMAR. „Dieser Prozess ist kompliziert und oft fehleranfällig“, so Dr. Tasdemir weiter.

In ihrer Arbeitsgruppe ging sie dieses Problem durch automatisierte, computergestützte Ansätze in Kombination mit Bioaktivitäts-Screenings an. In einer einjährigen Untersuchung wurde festgestellt, dass die in der Kieler Förde vorkommende Braunalge Fucus vesiculosus (Blasentang) das Wachstum des pathogenen Bakteriums Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) hemmt, welches Krankenhausinfektionen verursacht.

„Auf Algorithmen basierende Chemo- und Bioinformatik-Strategien sowie maschinelle Lernwerkzeuge haben es uns ermöglicht, das massive Metabolom der Braunalge zu kartieren und gleichzeitig die für ihre antibiotische Aktivität verantwortlichen Wirkstoffcluster vorherzusagen“, sagt Dr. Larissa Büdenbender, ehemalige Postdoktorandin in der Gruppe von Prof. Tasdemir und Hauptautorin eines der beiden jetzt in der Fachzeitschrift Marine Drugs erschienenen Artikel. Die von der Forschergruppe angewandten Algorithmen fassen die Substanzen auf Grundlage ihrer in massenspektrometrischen Analysen gewonnenen chemischen Ähnlichkeiten in komplexen Netzwerken als Molekülfamilien zusammen. Zusammen mit in silico maschinellen Lernwerkzeugen können so bekannte und neue Verbindungen bereits im Extrakt chemisch identifiziert werden. Nach dem ersten schnellen chemischen Fraktionierungsschritt des Extrakts hilft die Bioinformatik, den Bioaktivitäts-Score der Moleküle entsprechend ihrer relativen Häufigkeit in den Fraktionen vorherzusagen. Diese bioaktiven Verbindungen werden dann gezielt isoliert. „Das klassische Verfahren von der Extraktion bis zur Charakterisierung der bioaktiven Inhaltsstoffe der Alge würde normalerweise 3-4 Jahre dauern. Diese automatisierten Werkzeuge helfen uns, die gezielte Entdeckung neuer natürlicher Antibiotika auf einige Monate zu beschleunigen“, betont Prof. Tasdemir.

„Blasentang steht in der Natur oft unter starkem Bewuchs-Druck und Biofilmbildung durch Millionen von Mikroorganismen im Meerwasser. Daher sind membrangebundene Verbindungen, wie wir sie identifiziert haben, von hoher ökologischer Bedeutung für den Schutz der Alge. Solche Moleküle, die im natürlichen Lebensraum eine wichtige Funktion ausüben, zeigen oft auch Aktivitäten gegen menschliche Krankheitserreger. Da Blasentang eine essbare Meeresalge ist, machen sie solche Aktivitäten zu attraktiven Quellen nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für Nahrungsergänzungsmittel oder zum Schutz von Lebensmitteln“, führt Prof. Tasdemir aus. Als nächstes werde sie das Anwendungspotenzial von Blasentang in der Lebensmittelindustrie untersuchen.

Auf den Oberflächen, aber auch im Inneren von Meeresalgen leben viele Pilze in Symbiose mit ihrem Wirt. Auch sie sind vielversprechende Kandidaten bei der Entdeckung und Entwicklung neuer Arzneimittel. Bicheng Fan, ein Doktorand von Prof. Tasdemir, hat über 120 symbiotische Pilze aus dem Blasentang isoliert. Herr Fan hat die Pilzgattung Pyrenochaetopsis sp. näher untersucht, da dieser Pilz Hautkrebszellen vom Melanomtyp bei gleichzeitig geringer Toxizität gegenüber normalen Hautzellen effizient abtötet und darüber hinaus ein sehr reiches chemisches Inventar aufweist. Auch er wandte computergestützte automatisierte Ansätze an, um spezielle Moleküle mit seltenem chemischem Grundgerüst zu isolieren. Die Studie ist ebenfalls kürzlich in Marine Drugs erschienen.

Laut Prof. Tasdemir ist dies erst die zweite chemische Studie an der bisher völlig unerforschten Pilzgattung Pyrenochaetopsis. „Pilze, die wir aus Blasentang isoliert und unter optimierten Laborbedingungen kultiviert haben, sind eine etablierte Quelle für natürliche Krebsbekämpfungsmittel. Wir haben hier mehrere neuartige Naturstoffe gefunden, die wir Pyrenosetine A und B genannt haben und die ein hohes Potenzial zur Bekämpfung von Hautkrebs haben“, fährt die Chemikerin fort. 

„Die Natur ist die Quelle von mehr als der Hälfte aller modernen Medikamente, die wir heute verwenden. Der Zugang zu den revolutionären Genomik-, Bioinformatik- und maschinellen Lernwerkzeugen ermöglicht in bisher nicht dagewesener Weise neue und schnelle Entdeckungen mariner Wirkstoffe sowie effizientere Analysen für eine spätere Arzneimittelentwicklung mit Industriepartnern“, sagt Prof. Tasdemir abschließend.

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