Umfassende genetische Charakterisierung primärer Immundefekte

Genetik primärer Immundefekte in noch nie dagewesenem Umfang erforscht

08.05.2020 - Deutschland

Sogenannte primäre Immundefekte (Englisch: primary immunodeficiencies, kurz: PID) sind eine Gruppe seltener Immunschwächen, die auf einer Fehlsteuerung des Immunsystems beruhen. Bei den Betroffenen kann es unter anderem zu wiederkehrenden und oft lebensbedrohlichen Infektionen kommen. Zudem ist ihr Risiko für Autoimmunreaktionen, bei denen sich das Abwehrsystem gegen den eigenen Körper richtet, sowie Krebs erhöht. primäre Immundefekte zählen zu den seltenen Erkrankungen: Schätzungsweise eine Person von 10.000 erkrankt. Sie können sich individuell sehr in Ausprägung und Verlauf unterscheiden. Das macht es bisher besonders schwer, die primären Immundefekte zu diagnostizieren. Man geht derzeit davon aus, dass den meisten PIDs ein genetischer Defekt zugrunde liegt. Die genetischen Veränderungen werden zum Teil vererbt, zum Teil spontan erworben. Doch oft ist es schwierig, den Immundefekt einer einzigen Genveränderung zuzuordnen, da so eine Genveränderung nicht bei allen Menschen zum Ausbruch der Krankheit führt. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung von Forschern des Instituts für klinische Molekularbiologie (IKMB) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat nun eine umfassende Genomanalyse von PID-Erkrankten vorgelegt, die neue Erkenntnisse über mit PID zusammenhängende genetische Veränderungen liefert. Die neuen Erkenntnisse veröffentlichte das Team um Forscher der Cambridge University am Mittwoch in Nature.

© Oliver Franke, IKMB Uni Kiel

Durch die detaillierte Analyse kompletter Genome von Menschen mit einem primären Immundefekt (PID) konnte das Forschungsteam eine Vielzahl seltener Genveränderungen aus vorangegangenen Studien bestätigen und weitere Gene identifizieren, die bei Erkrankten im Vergleich zu Gesunden verändert sind.

In der Arbeit konnten die Forscher durch die detaillierte Analyse kompletter Genome von Erkrankten eine Vielzahl seltener Genveränderungen aus vorangegangenen Studien an PID bestätigen und weitere Gene identifizieren, die bei Erkrankten im Vergleich zu Gesunden verändert sind. Des Weiteren wurden nun auch Veränderungen des Erbguts in sogenannten genregulatorischen Bereichen identifiziert, die zur Krankheitsentstehung beitragen. Diese Bereiche kodieren nicht wie die eigentlichen Gene für Proteine, sondern regulieren die Übersetzung der Gene in Proteine. Der beobachtete Einfluss von Veränderungen in den genregulatorischen Bereichen liefert eine Erklärung dafür, warum die Krankheit nicht bei allen Menschen ausbricht, die bekannte, eigentlich krankheitsverursachende Genveränderungen aufweisen. Die neu-identifizierten genetischen Muster von Genveränderungen, die PID verursachen, sind die Grundlage für eine bessere genetische Diagnose von PID in Zukunft. „So umfassend und in so einer Analysetiefe wie in dieser Arbeit ist diese diverse Erkrankung bisher noch nicht untersucht worden“, erklärt Ko-Autor Professor David Ellinghaus, Wissenschaftler am IKMB und Mitglied des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI). „Damit ist ein wichtiger Schritt für ein genaueres Verständnis der primären Immundefekte getan. Je genauer wir die genetischen Ursachen dieser Erkrankung kennen, desto besser und gezielter können PID-Erkrankte zukünftig diagnostiziert und behandelt werden“, so Ellinghaus weiter.

Anhand von Analysen des kompletten Genoms einzelner Erkrankter und ihrer direkten Verwandten haben die Forschenden im Detail untersucht, wie sich häufig vorkommende, bekannte Genvarianten zusammen mit seltenen Genvarianten auf das Immunsystem auswirken und gegenseitig beeinflussen. So haben sie beispielsweise das Genom eines Patienten analysiert, dessen Mutter eine seltene Genvariante trug, aber nicht an PID litt, stattdessen jedoch eine Autoimmunerkrankung hatte. Zusätzlich zu der seltenen Genvariante der Mutter hatte der PID-Patient vom Vater eine häufige Genvariante geerbt, die bisher mit rheumatoider Arthritis in Verbindung gebracht worden war. Der Bruder des untersuchten PID-Erkrankten hat dagegen nur diese häufige Genvariante vom Vater geerbt und zeigt keine PID-Symptome. Das gemeinsame Auftreten einer häufigen und einer seltenen Risikovariante hat vorrausichtlich zu der ausgeprägten Immunschwäche geführt. Dieses Beispiel verdeutlicht, warum die Ausprägung und Symptome der Erkrankung von Mensch zu Mensch so unterschiedlich ausfallen und auch familiär unterschiedlich ausfallen können. 

Ko-Autorin Dr. Eva Ellinghaus, Wissenschaftlerin am IKMB und Mitglied im Exzellenzcluster PMI, hatte bereits in einer vorangegangenen internationalen Forschungsarbeit gemeinsam mit weiteren PMI-Clustermitgliedern Patientinnen und Patienten mit CVID (common variable immunodeficiency, eine der häufigsten Erkrankungen aus der Gruppe der PID, genetisch untersucht. Die Daten wurden für die nun vorliegende Arbeit neu analysiert und lieferten dabei wichtige zusätzliche Erkenntnisse über die Genetik von PID. „Unsere Analyse war zu dem Zeitpunkt die größte genetische Untersuchung zu CVID. Wir haben mehr als 770 Erkrankte genetisch analysiert und ein neues Risikogen, genannt CLEC16A, für die Erkrankung identifiziert. In der aktuellen Studie haben wir festgestellt, das genetische Risikovarianten in CLEC16A das Risiko sowohl für PID als auch für Autoimmunität erhöhen“, sagt Dr. Eva Ellinghaus.

Auf Basis der neuen Forschungsergebnisse könnte es in Zukunft gelingen, mittels individueller Analysen der gesamten Erbinformationen bei einzelnen Patientinnen und Patientinnen bestimmte Genvariationen und -muster zu erkennen und so das Vorliegen einer PID-Erkrankung besser als bisher zu diagnostizieren. „Die vorliegende Arbeit ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer Präzisionsmedizin, also einer individualisierten Medizin, für primäre Immundefekte“, sagt Prof. David Ellinghaus. „Da diese Erkrankungen so divers sind in ihrer Ausprägung und gleichzeitig so selten sind, ist es umso wichtiger, dass jede Patientin und jeder Patient individuell betrachtet wird“, so Ellinghaus weiter.

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