Kleidung und Verpackungen aus Pilzen?
Die Pilz-Revolution
„Weltweit gibt es geschätzt rund sechs Millionen verschiedene Arten von Pilzen, alle mit spezifischen Eigenschaften. Einige davon bieten uns heute die Chance, unsere erdölbasierte Wirtschaft in eine biobasierte umzuwandeln“, sagt Prof. Dr. Vera Meyer, Leiterin des Fachgebietes Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der TU Berlin. „Den Pilzen kommt dabei sogar eine Pionierfunktion zu.“ Mit ihrem Team modifiziert sie Pilzkulturen so, dass man aus ihnen Textilien, Verpackungen und selbst Kleidung herstellen kann. „Eine Pilz-Revolution steht uns bevor“ titelte kürzlich sogar die ‚Scientific American‘.
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Wir sind es gewohnt, Pilze zu uns zu nehmen: Brot, Käse, Wein und Bier werden mit Hilfe von Pilzen hergestellt. So auch eine Vielzahl unserer Medikamente. Aber können wir uns auch vorstellen, auf Möbeln aus Pilzen zu sitzen, in Häusern aus ihnen zu wohnen oder Kleidung aus Pilzen zu tragen? Die TU-Biotechnologin ist als Wissenschaftlerin und als Künstlerin von Pilzen fasziniert. Mit „Mind the Fungi!“ hat sie ein Citizen-Science-Projekt ins Leben gerufen, in dem auch Bürger beteiligt sind, um unter anderem herauszufinden, wie groß die Akzeptanz solcher Stoffe für den alltäglichen Gebrauch wäre.
Das Team um die Biotechnologin experimentiert mit verschiedenen, vielseitigen und nützlichen Pilzen. Auf nachwachsenden pflanzlichen Rohstoffen produziert der eine Pilz Enzyme und Zitronensäure, der andere Nahrungsmittel, ein dritter arbeitet als kleine Chemiefabrik bei der Produktion von Medikamenten. Nun werden jene Pilze erforscht, mit denen man Textilien, Möbel oder Verpackungen herstellen kann: der ideale Ersatz für erdölbasierte Materialien wie Plastik und Kunststoffe, für tierisches Leder und sogar für Baustoffe wie Rigips.
Möbel aus Pilzen? Wie würden Sie entscheiden?
In den Bioreaktoren des Labors auf dem TIB-Gelände der TU Berlin im Wedding werden die Pilze kultiviert. An dieser Forschung ist auch das TU-Labor für Bioverfahrenstechnik von Prof. Dr. Peter Neubauer beteiligt. Die Wissenschaftler untersuchen das Erbgut der Pilze, analysieren deren Genome, die jeweils aus rund 10.000 verschiedenen Genen bestehen, und verändern diese gezielt durch gentechnische Methoden. Eine besondere Rolle spielen bei den Citizen-Science-Projekten aber auch die Expertise, Ideen, Visionen, Gedanken und Bedenken von Wissenschaftlern aus ganz anderen Disziplinen, von Künstlern, Designern und von interessierten Bürgern. Um die Öffentlichkeit für eine Mitarbeit zu motivieren, halten die Forscher öffentliche Vorträge, veranstalten Diskussionsrunden, Workshops und Ausstellungen.
Nachhaltige Produktion: Die Herstellung von einem Kilo Baumwolle verbraucht 10.000 Liter Wasser, die gleiche Menge Textilien aus Pilzen benötigt nur 100 Liter
„In der Region Berlin-Brandenburg haben wir in öffentlichen Pilzsammelaktionen im Wald bereits mehr als 70 verschiedene Baumpilzarten sammeln und dann im Labor identifizieren können“, so Vera Meyer. „Denn für viele Anwendungsmöglichkeiten, die wir hier erforschen, spielt der regionale Aspekt auch aus Nachhaltigkeits- und Kostengründen eine große Rolle.“ Die Pilze werden auf Pflanzenabfällen und Biomasse wie Stroh, Holzspänen oder Flachs kultiviert. Daraus bildet sich dann im Lauf der Zeit ein fester Verbundstoff – ein reines Biomaterial, aus dem man Kleidung entwickeln, Möbel oder Häuserwände bauen kann. Diese emittieren beim Verbrennen weniger CO2, sind zudem noch weniger entflammbar und nach Gebrauch kompostierbar. Und auch die Herstellung ist nachhaltig: Circa 10.000 Liter Wasser verbraucht die Produktion von einem Kilo Baumwolle. Die gleiche Menge Textil aus Pilzen benötigt theoretisch nur 100 Liter. Ob pilzbasierte Materialien tatsächlich nachhaltig hergestellt werden können und über einen besseren CO2-Fußabdruck verfügen als herkömmliche Materialen und Produkte, analysiert das TU-Fachgebiet „Sustainable Engineering“ von Prof. Dr. Matthias Finkbeiner, das neben vielen anderen Fachgebieten der TU-Fakultät III Prozesswissenschaften ebenfalls mit im Boot ist.
„Mind the Fungi!“ zeigt Potenzial im „Futurium“, dem Haus der Zukünfte in Berlin
Das Potenzial der Pilzbiotechnologie machen die Wissenschaftler, Künstler und Designer derzeit auch im Haus der Zukünfte, im „Futurium“ am Alexanderufer in Berlin, öffentlich. Hier zeigen sie Beispiele, wie Pilze auf pflanzlichen Reststoffen wachsen – auf Holz oder Stroh – und sich mit ihnen zu einem festen Material verbinden, geeignet sogar zum Bauen. Dort sind auch bio-basierte Gebrauchsgegenstände zu sehen, die Studierende der Biotechnologie der TU Berlin gemeinsam mit Kommilitonen des Produktdesigns der Kunsthochschule Weißensee im Rahmen des „Greenlab 8.0“ im vergangenen Sommersemester sechs Wochen lang aus Textilabfällen entwickelt haben. Sie stellten Verbundstoffe aus Baumpilzen her oder transformierten die Abfällt durch die Pilzfermentation in stabile dreidimensionale Objekte wie zum Beispiel Lampenschirme und färbten sie mit mikrobiellen Pigmenten ein.
Pilze als Kunstobjekte – Ausstellung im Januar 2020
Doch hinter „Mind the Fungi!“ steckt noch eine andere Dimension. Vera Meyer, die kürzlich auch in die Mitgliederrunde der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften „acatech“ aufgenommen wurde, fasziniert ebenso die optische und haptische Ästhetik des Pilzes, dessen filigrane Strukturen sie oft durch das Mikroskop betrachtet. Unter dem Namen „V. meer“ ist die Biotechnologin auch als Künstlerin aktiv, malt und stellt Skulpturen aus Baumpilzen her. Dass heute so stark zwischen Wissenschaft und Kunst getrennt wird, ist aus ihrer Sicht hinderlich für innovative Ideen und damit für die Lösung von Menschheitsproblemen.
„Leonardo da Vinci war noch gleichzeitig Künstler, Erfinder, Ingenieur und Anatom. Der Naturwissenschaftler und Entdecker Alexander von Humboldt tauschte sich mit dem Dichter und Wissenschaftler Johann Wolfgang von Goethe und dem Philosophen, Historiker und Mediziner Friedrich Schiller aus“, zählt sie auf. Der künstlerische Blick auf ein Objekt oder einen Organismus, könne Wissenschaftler auch heute auf unerwartete Ideen bringen, sich ihrem Forschungsgegenstand aus einer ganz anderen Perspektive zu nähern. Daher ist als Verbindung zur Kunst- und Designszene auch das Art Laboratory Berlin Teil des Projektteams „Mind the Fungi!“. Vom 23.1. – 14.2.2020 wird „V. meer“ ihre erste große Ausstellung in der Pankower Degewo-Galerie „Remise“, in der Pankgrafenstraße 1 zeigen.