Neue Mikroskopie-Technologie offenbart Struktur und Funktion eines zentralen Stoffwechselenzyms
Martina Maritan
Die Kraftwerke unserer Zellen, die Mitochondrien, bauen über die Nahrung zugeführte Moleküle ab, um daraus einerseits Energie sowie anderseits neue Moleküle als Bausteine für neue Zellen zu produzieren. Für ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden gegensätzlichen Vorgängen sorgt ein Enzym namens Protonen-translozierende Transhydrogenase oder NNT (Nikotinamid-Nukleotid-Transhydrogenase). NNT sitzt in der Mitochondrienmembran. Über einen elektrochemischen Protonengradienten versorgt es im Zuge der Zellatmung die Mitochondrien mit genau der richtigen Menge des Co-Enzyms NADPH, einem essenziellen Stoffwechselvorprodukt. Bei allen Tieren – so auch beim Menschen – ist das ordnungsgemäße Arbeiten von NNT Voraussetzung für eine funktionierende Stoffwechselregulation. Wie genau jedoch NNT den koordinierten Transfer von Protonen über die Membran und die Synthese von NADPH zuwege bringt, war bislang aufgrund mangelnder Kenntnisse über die atomare Struktur des Enzyms nicht bekannt. Domen Kampjut, PhD-Student am IST Austria gelang es nun gemeinsam mit dem Strukturbiologen und Leiter der Forschungsgruppe Professor Leonid Sazanov erstmalig, das NNT-Molekül von Säugetieren in einem Maßstab zu visualisieren, der es ihnen erlaubte, die strukturellen Prinzipien hinter der „Gatekeeper“-Funktion des Enzyms zu identifizieren – und so ein tieferes Verständnis über seine Funktion (und Fehlfunktion) zu erlangen.
“Resolution revolution” am IST Austria
Die atomare Analyse des Enzyms NNT war den Wissenschaftern nur durch Zugang zu neuen spitzentechnologischen Entwicklungen im Bereich der Kryo-Elektronenmikroskopie möglich, der sogenannten „Resolution revolution“ (zu Deutsch etwa: „Revolution der Auflösung“). Teile der generierten Daten basieren auf der Verwendung eines von drei neuen Kryo-Elektronenmikroskopen, die erst im Herbst 2018 am IST Austria installiert wurden. Das Kryo-Transelektronenmikroskop „300kV FEI Titan Krios“ in Klosterneuburg lieferte den Wissenschaftern – nach einem sehr zeit- und arbeitsintensiven Bildverarbeitungsprozess und mit Unterstützung der Experten der zentralen Serviceeinrichtung Electron Microscopy Facility des IST Austria – auf nahezu atomarer Ebene hochaufgelöste Bilder der drei abgegrenzten Domänen des Moleküls in ihren unterschiedlichen Konformationszuständen. Die Ergebnisse dieser Analyse sind somit die ersten Daten, die auf Basis des neuen Mikroskops am IST Austria veröffentlicht wurden.
Türöffner für Protonen – und für neue Behandlungsmöglichkeiten
Mithilfe der generierten Bilder konnten die Strukturbiologen zeigen, wie jene Domäne des Moleküls, welche NADPH bindet, den Protonenkanal zu beiden Seiten der mitochondrialen Membran öffnen kann. Erstautor Domen Kampjut: „NNT wird bereits seit Jahrzehnten untersucht, aber mit klassischen bildgebenden Verfahren wie zum Beispiel der Röntgenkristallographie war es nicht möglich, die Struktur dieses hoch dynamischen Moleküls im Detail zu studieren. Die Analyse und Probenaufbereitung von Membranmolekülen wie NNT für die Kristallographie ist außerdem aufgrund ihrer Fragilität besonders herausfordernd. Nur dank der Technik der Kryo-Elektronenmikroskopie können wir schlussendlich ganz klar sehen, wie der Protonentransfer funktioniert – und damit eine Wissenslücke darüber schließen, was zu tun ist, sollte dieser Mechanismus einmal nicht funktionieren.“
Professor Leonid Sazanov fügt hinzu: „Die Struktur der Transhydrogenase ist besonders spannend, weil eine, noch dazu relativ große ihrer drei Domänen eine erstaunliche 180-Grad-Drehung nach ‚oben‘ oder ‚unten‘ vollzieht. Soweit wir wissen ist dies unter den derzeit bekannten Enzymmechanismen ein einzigartiges Phänomen. Diese Rotationsbewegung macht einfach Sinn und passt zu unseren Annahmen über den Protonentransfer – und sie demonstriert uns, mit welch kreativen Lösungen die Natur aufwarten kann, um komplexe Aufgaben zu bewältigen.“
Die Ergebnisse sind ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Realisierung neuer Therapiemöglichkeiten. Zum Beispiel hat die Entwicklung eines derzeit noch nicht verfügbaren NNT-Inhibitors großes therapeutisches Potenzial in Zusammenhang mit diversen Stoffwechselstörungen wie dem Metabolischen Syndrom und einigen Krebsarten.