Sechs an einer Hand
Ein angeborener zusätzlicher Finger bringt motorische Vorteile
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Die Forscher aus Freiburg, London und Lausanne untersuchten in ihrer Fallstudie zwei Probanden, die an beiden Händen jeweils einen zusätzlichen Finger zwischen Daumen und Zeigefinger voll ausgebildet haben. „Wir wollten herausfinden, ob die motorischen Fähigkeiten dieser Personen über diejenigen von Menschen mit fünf Fingern hinausgehen und wie das Gehirn in der Lage ist, diese zusätzlichen Freiheitsgrade zu kontrollieren“, erklärt Prof. Dr. Carsten Mehring von der Universität Freiburg und dem Bernstein Center Freiburg.
Dazu ließen die Wissenschaftler die Probanden mehrere Verhaltensexperimente ausführen und beobachteten mittels funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRT) die Gehirnaktivität. Die Ergebnisse zeigen, dass die zusätzlichen Finger mithilfe von eigenen Muskeln und Nerven bewegt werden. Dadurch können die Personen sie weitestgehend unabhängig von allen anderen Fingern bewegen. „Unsere Probanden können ihre zusätzlichen Finger frei einsetzen, ähnlich wie einen weiteren Daumen – und das allein oder zusammen mit den anderen fünf Fingern. Dadurch können sie ihre Hand außergewöhnlich vielseitig und geschickt nutzen“, fasst Mehring zusammen. „Zum Beispiel können sie in unseren Versuchen eine Bewegungsaufgabe mit nur einer Hand ausführen, für die andere Menschen normalerweise zwei Hände benötigen.“
Überraschend dabei: „Obwohl das Gehirn diesen höheren Freiheitsgrad kontrollieren muss, haben wir keine Nachteile festgestellt im Vergleich zu Menschen mit fünf Fingern. Kurz gesagt, es ist erstaunlich, dass das Gehirn genug Kapazität dafür hat, ohne an anderer Stelle etwas opfern zu müssen“, sagt Prof. Dr. Etienne Burdet vom Imperial College London.
Um zu verstehen, wie das Gehirn von Menschen mit Polydaktylie die zusätzlichen Finger steuert, verwendeten die Forscher hochauflösende fMRT. „Wir konnten dezidierte neuronale Aktivitäten finden, die den sechsten Finger kontrollieren, und der somatosensorische und motorische Kortex sind genau so organisiert, dass sie die beobachteten zusätzlichen motorischen Fähigkeiten ermöglichen“, kommentieren Prof. Dr. Andrea Serino und Dr. Michael Akselrod, die für die bildgebenden neurowissenschaftlichen Studien an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und am Universitätsklinikum Lausanne verantwortlich waren.
Die vorliegende Studie könnte die Entwicklung von zusätzlichen künstlichen Gliedmaßen zur Erweiterung von Bewegungsfähigkeiten vorantreiben – beispielsweise einen zusätzlichen Arm, der es erleichtert, alleine statt mit einem Assistenten oder einer Assistentin zu arbeiten oder der es Chirurginnen und Chirurgen ermöglicht, Operationen ohne Assistenz auszuführen.
Die Wissenschaftler betonen allerdings, dass Menschen mit Polydaktylie den Umgang mit ihren zusätzlichen Gliedmaßen von Geburt an gelernt haben. Das bedeutet, dass eine ähnliche Funktionalität nicht zwingend erreicht werden kann, wenn zu einem späteren Zeitpunkt im Leben künstliche Gliedmaßen ergänzt werden. Dennoch eröffnen Menschen mit Polydaktylie eine einzigartige Chance, die neuronale Kontrolle zusätzlicher Gliedmaßen und die Möglichkeiten sensomotorischer Fertigkeiten zu analysieren.