Immunsystem verrät Rückfallrisiko bei Krebs
Jérôme Galon als Finalist für Europäischen Erfinderpreis 2019 nominiert
European Patent Office
Galons Erfindung wurde vom INSERM lizenziert und unter dem Namen Immunoscore® von einem von ihm mitbegründeten Unternehmen auf den Markt gebracht. Bei der Immundiagnostik wird die Anzahl der positiven Immunzellen eines Patienten an der Stelle des Tumors gezählt. Das Ergebnis gibt den Ärzten umfassende Informationen über die Antwort des Immunsystems eines Patienten. Die Krebserkrankung kann genauer klassifiziert und die effektivste Therapie angewandt werden. Kliniken auf der ganzen Welt nutzen Immunoscore, um das Rückfallrisiko bei Patienten mit Darmkrebs vorherzusagen.
„Die Erfindung von Jérôme Galon hat einen Paradigmenwechsel im Bereich der Onkologie bewirkt“, sagt EPA-Präsident António Campinos bei der Verkündung der Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2019. „Sie hat bereits zu einer Nachprüfung von Krebsklassifizierungssystemen geführt und könnte letztendlich neue Behandlungen ermöglichen. Mit der Gründung eines Start-ups und der erfolgreichen Nutzung von Patenten hat Galon seine Technologie auf den Markt gebracht, damit seine Forschungsanstrengungen dort ihre Wirkung zeigen können, wo sie am wichtigsten sind – nämlich in der Hilfe am Menschen.“
Die Gewinner des jährlichen Innovationspreises des EPA werden 2019 im Rahmen einer Galaveranstaltung am 20. Juni in Wien bekannt gegeben.
Aufschluss über die Rolle des Immunsystems bei der Krebsbekämpfung
Krebs ist die Krankheit, die am zweithäufigsten zum Tod führt. Laut der Weltgesundheitsorganisation sterben daran jedes Jahr weltweit 9,6 Millionen Menschen. Nichtsdestotrotz ist das Verständnis davon, wie sich Tumore verhalten und der Körper darauf reagiert, noch gering. Wird bei zwei Patienten gleichzeitig die exakt gleiche Krebsart diagnostiziert, können sich deren Tumore unterschiedlich schnell entwickeln und im Körper ausbreiten. Während der eine Patient eventuell nach mehreren Monaten stirbt, lebt der andere möglicherweise noch jahrelang mit der Erkrankung weiter.
Die etablierte medizinische Wissenschaft vertrat lange die Ansicht, dass die Unterschiede in den Tumoren selbst für unterschiedliche Krankheitsverläufe bei Patienten verantwortlich sind. Onkologen konzentrierten sich daher auf die Krebszellen und ihre genetischen Mutationen. Der Immunologe und Krebsspezialist Jérôme Galon verfolgte jedoch einen anderen Ansatz: Er vermutete, dass auch das Immunsystem des Patienten ein Schlüsselfaktor sein könnte. Galon, der am Institut Pasteur und am Institut Curie in Paris zum Immunologen ausgebildet wurde, promovierte 1996 am Jussieu Campus der Sorbonne Universität in Paris in Immunologie. Nachdem er als Postdoktorand am nationalen Gesundheitsinstitut in den USA (NIH) gearbeitet hatte, kehrte Galon 2001 nach Paris zurück, um eine vom INSERM finanzierte Forschungsgruppe zu leiten.
Nach mehreren Jahren intensiver Forschung entdeckten Galon und sein Team, dass die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, nicht allein von der Bösartigkeit eines Tumors abhängt, sondern insbesondere auch von der Stärke des Immunsystems des jeweiligen Patienten. Ihre Daten waren eindeutig: Je größer die Anzahl der Immunzellen im Tumorgewebe, desto höher die Lebenserwartung eines Krebspatienten. Diese Korrelation nannte Galon „Immunoscore“. Diese Enthüllung veränderte die Onkologie, insbesondere was die Rezidive bei Krebs betrifft.
Die Erfindung von Galon hat auch die Klassifizierung von Krebserkrankungen verändert. Seit Jahrzehnten wird das Risiko, dass eine Krebserkrankung erneut auftritt, anhand eines Klassifikationsschemas bewertet. Dabei werden jedoch die Eigenheiten der körpereigenen Immunantwort vernachlässigt, was zu unvollständigen Prognosen führt. Galons Diagnosetest füllt die Lücken, die das ursprüngliche Schema hinterlassen hat.
Unabhängige Forscher haben herausgefunden, dass Immunoscore die bisher zuverlässigste Prognose für das Rezidivrisiko bei soliden Krebsarten liefert. Es ist für den Einsatz bei Darmkrebs zugelassen, wo es mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit das Überleben von Krebspatienten voraussagt. Der Immunoscore wurde international bereits an 5 000 Patienten in drei separaten Studien validiert.
„Als Ärzte können wir Patienten und ihre Tumore jetzt viel besser verstehen“, sagt Galon. „Das hat eine ganz neue Ära eingeläutet, die Ära der Immunabwehr gegen Krebs, die sich mit der Immuntherapie entwickelt.“
Zählen von Immunzellen
Immunoscore funktioniert durch die Analyse einer kleinen Gewebeprobe, die operativ aus dem Primärtumor eines Patienten entnommen wird. Es überwacht die Krebserkrankung und zählt immune „zytotoxische“ T-Zellen, die krebsartige oder virusinfizierte Zellen zerstören. Je mehr dieser Immunzellen sich in Tumoren befinden, desto besser sind die Überlebenschancen des Patienten. Zur Durchführung des Tests fertigt ein Spezial-Scanner digitale Bilder von Tumorproben an, auf denen die Immunoscore-Software die Anzahl der positiven Immunzellen zählt. Ein Algorithmus berechnet dann den Immunoscore für jeden Patienten basierend auf der Konzentration der T-Zellen.
Niedrige Immunoscores deuten auf eine geringere Anzahl von Immunzellen hin, die den Tumor bekämpfen. So werden die Ärzte auf dringende Fälle aufmerksam, die bislang übersehen wurden, und auf gefährdete Patienten hingewiesen, die von einer umfassenderen Krebsbehandlung profitieren könnten. Hohe Immunoscores (die eine größere Anzahl positiver Immunzellen zeigen) lassen auf eine höhere Überlebenschance für Patienten schließen. Bei ihnen können folglich belastende Behandlungen wie intensive Chemo- oder Strahlentherapien vermieden werden. Dank Galons Erfindung können Ärzte nun die Behandlung für einzelne Patienten mit einer höheren Genauigkeit festlegen, dosieren und anpassen. Galon nimmt an, dass die Messergebnisse auch dazu verwendet werden können, bei gefährdeten Patienten personalisierte Medizin, einschließlich Immuntherapie, anzuwenden. So könnten natürliche Mängel im Immunsystem ausgeglichen werden.
Erschließung einer breiteren Nutzung durch Zusammenarbeit
Galon reichte 2005 seine erste Patentanmeldung für Immunoscore ein, bevor er 2006 seine Ergebnisse zur Bedeutung der Immunologie bei Krebs in der Zeitschrift Science publizierte. Für viele andere Aspekte der Erfindung folgten weitere Patentanmeldungen. Heute gilt Galon als Erfinder von 15 europäischen Patenten.
Um seine Erfindung auf den Markt zu bringen, gründete Galon 2014 das in Marseille ansässige Unternehmen HalioDx und ist heute Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats. Der Erfinder, der schon immer eine Affinität zum Unternehmertum hatte und beim Aufbau des Unternehmens mitwirken wollte, glaubt, dass Patente bei der Kommerzialisierung seiner Technologie von entscheidender Bedeutung waren und es ihm ermöglichten, seine Geschäftsidee als Spin-off zu starten. „Es ist sehr lohnenswert, die Grundlagenforschung in die Praxis umzusetzen“, sagt er. „Das Unternehmen wurde von Anfang an durch Risikokapital gestützt, und die Investoren haben sich intensiv damit beschäftigt, wie tiefgehend und umfangreich unsere Patente sind. Ohne sie hätte ich das benötigte Kapital nicht aufbringen können.“
Immunoscore wird bereits routinemäßig in den wichtigsten Krebszentren der Welt eingesetzt, um das Rückfallrisiko bei Darmkrebs im frühen bis mittleren Stadium vorherzusagen. Das Unternehmen hat zudem einen Lungenkrebstest auf den Markt gebracht. Der Erfinder hofft, dass der Test in Zukunft bei vielen Krebsarten zum Einsatz kommen wird.
Heute beschäftigt HalioDx rund 160 Mitarbeiter und lizenziert Galons Immunoscore-Patente vom INSERM. Im Januar 2017 hat das Unternehmen die Zertifizierung für den Verkauf von Produkten wie dem Immunoscore Colon Kit in der klinischen Diagnostik erhalten. Der Markt für Immunoscore wird auf eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Die Methode ist inzwischen in 19 Ländern im Einsatz. In den letzten fünf Jahren hat HalioDx weitere Mittel in der Höhe von 26,5 Millionen Euro aufgebracht. Sie sollen in die weitere Validierung der Tests für andere Krebsarten und in den Aufbau eines US-Labors sowie einer Produktionsstätte fließen. Die Pläne folgen dem Markttrend: Der Wert molekularer Diagnostik belief sich 2016 auf 5,4 Milliarden Euro. Zwischen 2017 und 2021 ist von einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 12,5 Prozent auszugehen.
Darüber hinaus hat sich das Unternehmen mit Anbietern von Medizintechnik zusammengeschlossen, um eine größere Zielgruppe zu erreichen. Im Jahr 2018 kündigte das Unternehmen eine Partnerschaft mit Philips an, um Immunoscore auf seiner digitalen Pathologieplattform verfügbar zu machen. Außerdem besteht eine Kooperation mit Nanostring aus den USA, um einen immunonkologischen Test anzubieten, der sich noch in der Entwicklungsphase befindet.