Ein soziales Bakterium, das sich vielseitig verhält
Verwandte Individuen eines Bodenbakteriums, die sich zu kooperativen Verbänden zusammentun, sind genetisch erstaunlich divers und zeigen vielfältige Verhaltensweisen.
ETH Zürich / Gregory J. Velicer
Eine grundlegende Eigenschaft lebender Systeme ist die Fähigkeit zur Zusammenarbeit. So bestehen Pflanzen und Tiere aus Milliarden von Zellen, die miteinander kommunizieren, spezifische Aufgaben erledigen und sich Ressourcen teilen. Auch viele einzellige Mikroorganismen kooperieren auf vielfältige Weise, indem sie Gemeinschaften bilden und nützliche Gene oder Güter untereinander austauschen.
Besonders kooperativ ist die Mikrobe Myxococcus xanthus. Sie kommt fast überall auf der Welt in Böden vor und dient Wissenschaftlern als Modellorganismus für mikrobielle Entwicklung und Kooperation. Bei diesem räuberischen Bakterium schliessen sich die Zellen zu kooperativen Verbänden zusammen, die gemeinsam ausschwärmen und andere Mikroorganismen im Boden jagen. Um sich als Gruppe fortzubewegen, sondern sie Gleitstoffe ab und ziehen sich mit speziellen Fortsätzen durch das umgebende Substrat. Wird die Nahrung knapp, ballen sich tausende dieser Bakterien zu einem Fruchtkörper zusammen und bilden Dauersporen aus. So können sie Hunger und Trockenheit trotzen.
Nah verwandt – und doch verschieden
Bislang ging man davon aus, dass Kooperation vor allem zwischen genetisch nah verwandten Zellen gut gelingt, die sich ähnlich verhalten. Denn unterscheiden sich Individuen genetisch zu stark, sollten sie sich gegenseitig meiden, behindern oder gar bekämpfen. «Über die genetische Zusammensetzung kooperierender Gruppen dieser sozialen Bakterien in der Natur wusste man bis anhin sehr wenig», sagt Sébastien Wielgoss, Oberassistent in der Gruppe von Professor Gregory Velicer am Institut für integrative Biologie der ETH Zürich.
Gemeinsam mit Kollegen haben Wielgoss und Velicer nun die genetischen Verwandtschaftsbeziehungen von M. xanthus-Fruchtkörpergruppen aus dem Boden näher untersucht. Dazu verwendeten sie eine der grössten Sammlungen an M. xanthus-Stämmen weltweit, die Velicer in seinem Labor in Gefrierschränken hält.
In einer soeben im Fachmagazin Science veröffentlichten Studie zeigen die Forscher anhand genetischer Analysen, dass kooperierende Gruppen des Bodenbakteriums M. xanthus tatsächlich aus nahverwandten Zellen bestehen, die sich jedoch genetisch und in ihrem sozialen Verhalten unerwartet deutlich unterscheiden. Die kooperativen Zellverbände bleiben dabei oft über hunderte von Generationen bestehen.
Selektion an sozialen Genen
In ihrer Studie untersuchte das Forscherteam Zellverbände, die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten. In diesen nahverwandten Gruppen entstanden durch Mutation verschiedene sozial unterschiedliche Zelllinien, die beispielsweise schneller oder langsamer schwärmen, oder mehr oder weniger Sporen im Fruchtkörper ausbilden.
Eine hohe Verhaltensvielfalt kann auch eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen. Zum Beispiel wenn sich einzelne Bakterien im Verband «betrügerisch» verhalten und wenig beitragen, sich aber dennoch vom Rest der Gruppe aushalten lassen. «Wir haben jedoch keine solchen betrügerischen Verhaltensweisen beobachtet», hält Wielgoss fest. Die meisten Gruppen seien sowohl genetisch als auch sozial hochdivers und funktionierten dennoch gut miteinander.
Die hohe Vielfalt an Verhaltensweisen führen die Forscher auf eine Form evolutionärer Selektion zurück, die sich auf wenige «soziale» Gene konzentriert, die das Sozialverhalten der Bakterien steuern. Durch natürliche Mutationen in diesen «Selektions-Hotspots» häufen sich Verhaltensänderungen an – es entsteht eine durchmischte Gemeinschaft von Zellen mit variierender Sporenproduktion und unterschiedlichen Schwärmgeschwindigkeiten. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die diversifizierten Zellen auch in ihrem kooperativen Jagdverhalten unterscheiden, speziell untersucht haben sie das in dieser Studie aber nicht.
«Zellgemeinschaften mit einem hohen Verhaltensrepertoire können sich besser an Umweltveränderungen anpassen und sind daher evolutionär oft erfolgreicher als homogene Gruppen von Zellen, die sich alle gleich verhalten. ‘Kulturelle Vielfalt’ ist bei Bakterien also durchaus ein Erfolgsrezept», erklärt Wielgoss das Phänomen.
Kooperierende Zellen besser verstehen
Mikroorganismen sind omnipräsent und spielen in unserem Alltag eine wichtige Rolle, sei es als Partner in unserer Darmflora, als Krankheitserreger oder in der Lebensmittelproduktion. Viele schliessen sich in der Natur ebenfalls zu kooperativen Zellverbänden zusammen. Laut den Forschenden kann das neu erworbene Wissen um die sozialen Bodenbakterien daher auch helfen, die Zusammenarbeit anderer bakterieller Zellgemeinschaften besser zu verstehen, etwa jene des bedeutenden Pathogens Pseudomonas aeruginosa, das immungeschwächte Patienten infizieren und zu schweren Langzeitinfektionen führen kann.