Gehirn aus dem Takt: Altern verändert die Feinabstimmung neuronaler Rhythmen im Schlaf

Studie zeigt Zusammenhang zwischen veränderter Kopplung neuronaler Rhythmen und Vergessen

28.02.2019 - Deutschland

Unser Gehirn arbeitet unentwegt, Tag und Nacht. Während wir schlafen, sorgt es dafür, dass tagsüber Erlebtes im Gedächtnis dauerhaft verfügbar bleibt. Dieser Vorgang wird als Konsolidierung bezeichnet. Konsolidierung erfordert, dass langsame rhythmische Muster neuronaler Aktivität möglichst präzise mit schnellen Mustern gekoppelt werden, insbesondere im Tiefschlaf. Ein Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung konnte nun zusammen mit Kollegen von der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Fribourg in der Schweiz nachweisen, dass bei älteren Menschen, die mehr vergessen, diese Koppelung aus dem Takt geraten ist. Die Ergebnisse der Studie, an der 34 jüngeren und 41 älteren Probanden teilnahmen, wurden in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.

Das Gehirn ist nicht nur im Wachzustand aktiv, sondern auch im Schlaf. Im Wachzustand sorgt das Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche des Gehirns dafür, dass wir uns in der Welt orientieren, Handlungen durchführen und Umwelteindrücke aufnehmen können. Im Schlaf wird das Erlebte gesichtet, geordnet und gefestigt (oder auch vergessen). Deswegen ist der Schlaf für die langfristige Speicherung und Vernetzung neuerworbenen Wissens und somit für das Lernen unerlässlich.

Zentral für den Informationsaustausch im Schlaf ist die zeitlich abgestimmte Kommunikation des Hippokampus mit der Großhirnrinde. Der Hippokampus ist eine tief im Gehirn liegende Struktur, die wesentlich an der schnellen aber kurzfristigen Speicherung neuerworbenen Wissens und alltäglicher Erlebnisse beteiligt ist. Der Schlaf ermöglicht es nun, dass der Hippokampus die langsamer lernende Großhirnrinde „trainiert“, indem das Neuerlernte immer wieder reaktiviert und allmählich fest eingeschrieben wird. Um erfolgreich zu sein, erfordert dieses „Training“ der Großhirnrinde die zeitlich präzise Koordination der Nervenzellaktivität in den beteiligten Gehirnarealen.

„Durch die Beobachtung der Gehirnaktivität von Probanden im Schlaf konnten wir nun zeigen, dass sich Personen, die mehr vergessen, in einem wesentlichen Punkt von anderen Personen unterscheiden: Die Aktivität der Nervenzellen im Hippokampus und in der Großhirnrinde ist bei den vergesslicheren Personen weniger präzise gekoppelt“, sagt Beate Muehlroth, Erstautorin der Studie und Doktorandin im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB).

Die Aktivität des Gehirns während des Schlafs können Wissenschaftler mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) sichtbar machen. Das EEG misst die elektrische Aktivität, welche durch die Nervenzellen während ihrer Tätigkeit erzeugt wird. Wach- und Schlafphasen sind dabei durch spezifische Muster rhythmischer Nervenzellaktivität gekennzeichnet. So sind das markanteste Merkmal von Tiefschlafphasen langsame Rhythmen in einer Frequenz von circa 0,5 bis 4 Schwingungen pro Sekunde, die sich nahezu über die gesamte Großhirnrinde ausbreiten. Diese sogenannten „langsamen Wellen“ ermöglichen die Koordination neuronaler Informationsverarbeitung in weiten Teilen des Gehirns. Auf diese Weise entstehen Zeitfenster, in denen Erinnerungen durch den Hippokampus reaktiviert und durch die Großhirnrinde optimal gelernt werden können.

Die Aktivierung des Informationsaustauschs zwischen dem Hippokampus und der Großhirnrinde ist im menschlichen EEG durch schnelle rhythmische Nervenzellaktivität mit einer Frequenz von circa 12 bis 16 Schwingungen pro Sekunde gekennzeichnet. Wegen ihrer äußeren Ähnlichkeit mit Spindeln, wie sie beim Spinnen von Wolle verwendet werden, werden diese Schwingungsmuster auch als „Schlafspindeln“ bezeichnet. Ein optimales „Training“ der Großhirnrinde durch den Hippokampus ist dann möglich, wenn Schlafspindeln genau zu jenen Zeitpunkten auftreten, in denen die langsamen Wellen die Nervenzellen der Großhirnrinde für eine effiziente Informationsverarbeitung vorbereitet haben.

Das Forscherteam hat nun die Lern- und Merkfähigkeit von 34 jüngeren Probanden im Alter zwischen 19 und 28 Jahren und 41 älteren Probanden im Alter zwischen 63 und 74 Jahren in einem speziell zu diesem Zweck entwickelten Gedächtnistest verglichen. Die Nacht zwischen dem Lernen und dem Gedächtnistest am nächsten Tag haben die Teilnehmer zu Hause verbracht. Dort wurde die Nervenzellaktivität im Schlaf mit einem tragbaren Schlaf-EEG System erfasst. Zusätzlich wurde die Größe und Struktur gedächtnis- und schlafrelevanter Gehirnareale mittels Magnetresonanztomografie (MRT) im Labor vermessen.

In den Ergebnissen zeigte sich wie erwartet, dass ältere Probanden im Durchschnitt mehr vergaßen als jüngere Teilnehmer. Zusätzlich zeigte sich, dass Probanden mit geringerer Merkfähigkeit nachts während der Tiefschlafphasen eine weniger präzise Kopplung zwischen Schlafspindeln und langsamen Wellen aufwiesen. Ähnlich wie bei einer Person, die immer knapp am Takt vorbei klatscht, verpassten die Schlafspindeln den optimalen Zeitpunkt zum „Training“ der Großhirnrinde, so dass die Konsolidierung der neu erlernten Inhalte weniger erfolgreich war.

„Wir haben festgestellt, dass die Kopplung der beiden Nervenzellrhythmen mit dem Alter tendenziell abnimmt und die Vergesslichkeit gleichzeitig zunimmt. Dies bedeutet zugleich: Diejenigen unter den älteren Probanden, die bei den Gedächtnistests gut abschnitten, zeigten auch ein Kopplungsmuster, das dem der jüngeren Probanden ähnelt“, sagt Markus Werkle-Bergner, Seniorautor und Projektleiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

In weiteren Analysen konnte das Forscherteam zusätzlich zeigen, dass das Ausmaß der Kopplung von Schlafspindeln und langsamen Wellen mit der Struktur derjenigen Gehirnareale zusammenhängt, die an ihrer Erzeugung beteiligt sind. Dies gilt vor allem für den Hippokampus, für eine Region im Stirnhirn, die als medialer präfrontale Kortex bezeichnet wird, sowie für den Thalamus. Diese drei Regionen sind besonders stark von Alterungsprozessen betroffen. Es drängt sich daher die Vermutung auf, dass die Alterung schlaf- und gedächtnisrelevanter Gehirnareale Prozesse der langfristigen Speicherung neuerworbener Gedächtnisinhalte beeinträchtigt. In wie weit altersabhängige Veränderungen von Schlafverhalten und Schlafphysiologie langfristig die strukturelle Alterung des Gehirns beeinflussen, oder ob letztere kausal für beobachtbare Schlafbeeinträchtigungen mit höherem Lebensalter verantwortlich sind, soll in zukünftigen Verlaufsstudien näher betrachtet werden.

Originalveröffentlichung

Weitere News aus dem Ressort Wissenschaft

Meistgelesene News

Weitere News von unseren anderen Portalen

So nah, da werden
selbst Moleküle rot...