Wie sicher ist Graphen?
Auswirkungen auf Mensch und Umwelt unter der Lupe
Empa
Graphen, eine einzelne Schicht aus hexagonal angeordneten Kohlestoffatomen, gilt als das Wundermaterial der Zukunft: Es ist gleichzeitig flexibel, transparent, stark, kann unterschiedliche elektrische Eigenschaften annehmen und hat die höchste Wärmeleitfähigkeit aller bekannten Materialien. Das macht es für unzählige mögliche Anwendungen äusserst interessant. Das hat auch Europa erkannt: Seit fünf Jahren läuft das Grossforschungsprogramm «Graphene Flagship», das sich dem Material widmet. Es ist die grösste Forschungsinitiative, die Europa bislang auf die Beine gestellt hat – das zeigt die enorme Bedeutung von Graphen.
Biologische Auswirkungen unter der Lupe
Doch bei aller Euphorie: Wie bei jeder neuen Technologie müssen auch die potenziellen Schattenseiten früh in Betracht gezogen werden. Früher wurde diese oft erst zu spät untersucht. Asbest zum Beispiel, einst geschätzt für seine brandhemmenden Eigenschaften, wurde anfangs des 20. Jahrhundert für die Herstellung zahlreicher Produkte verwendet – doch die Gesundheitsgefahren wurden erst nach und nach entdeckt. 1970 wurden dann Asbestfasern offiziell als krebserregend eingestuft.
Ein wichtiger Teil des Graphen-Flagships widmet sich deshalb der Frage: Sind graphenbasierte Materialien sicher für Mensch und Umwelt? Bis heute sind dazu im Rahmen des Flagships zahlreiche Studien entstanden. Empa-Forscher des Particles-Biology Interactions Lab an der Empa untersuchten etwa, wie sich Graphenoxid in der menschlichen Lunge, Magendarmtrakt oder an der Plazentabarriere auswirkt.
In der Halbzeit des Graphen-Flagshipprojekts ist nun ein umfassender Review-Artikel erschienen, der die im Rahmen des internationalen Grossforschungsprojekts entstandenen Daten mit anderen publizierten Studien verknüpft und damit den aktuellen Wissenstand zum Thema Sicherheit von graphenbasierten Materialien aufzeigt. Partner aus 15 europäischen Universitäten und Forschungsinstituten wirkten am Review mit, darunter die Empa-Forscher Peter Wick und Tina Bürki.
Der Artikel gibt eine Übersicht darüber, wann im Lebenszyklus von graphenbasierten Materialien überhaupt Teile davon in die Umwelt oder den menschlichen Körper gelangen können: bei der Produktion, im Gebrauch, bei der Alterung oder im Entsorgungs- oder Recyclingprozess. Der grösste Teil der evaluierten Studien widmete sich der Frage, wie graphenbasierte Materialien mit dem menschlichen Körper interagieren. Darunter fallen die unterschiedlichen Wege, wie die Materialien überhaupt in den Körper gelangen können, etwa durch Einatmen, Verschlucken oder über Hautkontakt, sowie die Verteilung auf und die Interaktion mit wichtigen Organen wie dem zentralen Nervensystem, Lunge, Haut, Immunsystem, Herz-Kreislauf-System, Magen-Darm-Trakt und Fortpflanzungssystem.
Nicht minder wichtig sind aber mögliche Auswirkungen von Graphen auf andere Organismen und die Umwelt. Dazu gehören Bakterien, Algen, Pflanzen, Pilze sowie Wirbellose und Wirbeltiere in verschiedenen Ökosystemen.
Struktur bestimmt Aktivität
Auffällig ist: Nicht alle Studien kommen zum gleichen Resultat. Das muss aber nicht daran liegen, dass die Qualität einzelner Studien mangelhaft ist: «Die Herausforderung ist, dass Graphen nicht gleich Graphen ist», erklärt Peter Wick, Leiter des «Particles-Biology Interactions Lab» an der Empa. Graphenbasierte Materialien können etwa aus einer oder mehreren Schichten bestehen, die Breite und Länge der Schicht kann variieren, und auch das Verhältnis von Kohlenstoff- zu Sauerstoffatomen kann unterschiedlich sein. Je nach Kombination dieser drei Parameter erhält man nicht nur ganz unterschiedliche Materialeigenschaften – auch die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt variieren stark. Das macht einfache, allgemein gültige Aussagen fast unmöglich. «Unser Ziel ist es daher, ein detailliertes Modell für einen Zusammenhang zwischen Struktur und bestimmten Eigenschaften zu erstellen», so Wick. Die sorgfältige Charakterisierung der untersuchten Materialien ist daher zentral. Selbstlernende Algorithmen könnten künftig dabei helfen, aus den Daten ein Modell zu generieren, um die biologischen Auswirkungen einer bestimmten Graphenstruktur vorherzusagen.
Doch noch ist ein solches umfassendes Modell Zukunftsmusik. «Wir sehen uns hier als eine Art Geburtshelfer für die Bestimmung der Sicherheit von graphenbasierten Materialien und Produkten,» erklärt Wick. «Es gibt zwar immer mehr Studien und damit Hinweise dafür, wie graphenbasierte Materialien lebende Systeme beeinflussen – aber es gibt auch immer noch Wissenslücken. Diese müssen gefüllt werden, bevor wir eine klare Voraussage machen können, wie sich ein graphenbasiertes Material mit bestimmten Eigenschaften auf biologische Systeme auswirkt.» Damit soll ein neuer Standard für Behörden, Forschung und Industrie geschaffen werden, damit das Wundermaterial Graphen auch sicher eingesetzt werden kann.
Graphen Flagship
Das Graphen-Flagship ist die bisher grösste Forschungsinitiative der EU und nach Ansicht der Europäischen Kommission die «bedeutendste Auszeichnung der Geschichte für exzellente Forschung». Das mit einem Budget von einer Milliarde Euro ausgestattete Graphen-Flagship hat die Aufgabe, Graphen in zehn Jahren aus dem Bereich der akademischen Labors in die europäische Gesellschaft zu bringen und so Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und neue Chancen für die Europäer als Investoren und Arbeitnehmer zu schaffen. Mit dem Graphen-Flagship hat Europa eine neue Form einer gemeinsamen, koordinierten Forschungsinitiative von beispiellosem Ausmass ins Leben gerufen. Das Graphen-Flagship vereint ein akademisch-industrielles Konsortium, das auf einen Durchbruch für technologische Innovationen abzielt. Die Forschungsanstrengungen werden die gesamte Wertschöpfungskette von der Materialherstellung über die Komponenten bis hin zur Systemintegration abdecken und eine Reihe spezifischer Ziele verfolgen, die die einzigartigen Eigenschaften von Graphen nutzen.