Viele offene Fragen im Skandal um verunreinigte Blutdrucksenker

31.07.2018 - Deutschland

(dpa) Vor drei Wochen wurde bekannt, dass viele Bluthochdruckmittel, die auf dem Wirkstoff Valsartan basieren, mit einem potenziell krebserregenden Stoff verunreinigt sind. Doch darüber hinaus sind viele Fragen offen: Weder die deutschen Landesbehörden noch die Hersteller haben bislang Daten zur Dosis des Stoffes N-Nitrosodimethylamin (NDMA) veröffentlicht, der offenbar in den Produkten mehrerer Hersteller enthalten war. Nach ersten Stichproben-Analysen des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker sind die Verunreinigungen nicht zu vernachlässigen: In einzelnen Tabletten fanden sich bis zu 22 Mikrogramm NDMA.

Zum Vergleich: Bei Lebensmitteln wurde die NDMA-Belastung in den letzten Jahrzehnten stark reduziert. Wie Mitarbeiter des Zentrallaboratoriums in der «Pharmazeutischen Zeitung» schreiben, enthalte geräucherter Schinken maximal 2,5 Mikrogramm NDMA pro Kilogramm, für Bier existiere ein technischer Richtwert von 0,5 Mikrogramm pro Kilogramm.

Der Ausgangs-Wirkstoff für die inzwischen vom Markt genommenen Arzneimittel kam vom chinesischen Produzenten Zhejiang Huahai Pharmaceutical. Telefonisch war die Firma nicht zu erreichen. Letzte Woche betonte sie in einer Erklärung noch, dass es sich bei den Verunreinigungen um eine «extrem geringe Menge» handele. Der Pharmazeut und Dopingexperte Fritz Sörgel widerspricht. «Im Gegenteil: Es ist überraschend, dass sie so hoch ist», sagt er.

Offensichtlich habe sich der Hersteller nicht mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen die Verunreinigungen auf die Gesundheit von Patienten habe, da bereits geringste Mengen problematisch seien könnten. Es sei «erschreckend», dass die Substanz offenbar in so hohen Konzentrationen in Heilmitteln enthalten ist, erklärt Sörgel. Experimente haben bislang gezeigt, dass NDMA bei vielen Tierarten krebserregend ist. Die internationale Agentur für Krebsforschung der WHO und die EU stufen den Stoff beim Menschen als wahrscheinlich krebserregend ein.

Auch wenn noch offen ist, welches Risiko die dauerhafte Einnahme verunreinigter Präparate mit sich bringt, besteht nach aktueller Einschätzung zumindest kein akutes Gesundheitsrisiko, erklärt der Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Auf EU-Ebene analysieren und bewerten Arzneimittelexperten derzeit die Tragweite der Verunreinigung, wie auch die hiermit verbundenen Risiken. Patienten, die valsartanhaltige Arzneimittel einnehmen, sollten sich nach Empfehlung des BfArM mit ihrem Arzt oder Apotheker in Verbindung setzen. Wichtig sei, das Arzneimittel nicht ohne Rücksprache abzusetzen, da dies ungleich riskanter wäre. Da zahlreiche Valsartan-Präparate ohne Verunreinigung auf dem Markt sind, wie auch andere Blutdrucksenker, werden Patienten derzeit auf diese Mittel umgestellt.

Valsartan ist ein häufig verschriebenes Arzneimittel: Wie ähnliche Substanzen weitet es die Blutgefäße und senkt so den Blutdruck, es wird auch bei Patienten mit Herzschwäche oder nach einem Herzinfarkt eingesetzt. Nach einer Schätzung der Bundesregierung könnten im vergangenen Jahr rund 900.000 Patienten das verunreinigte Mittel eingenommen haben. Laut einem Sprecher der Techniker-Krankenkasse seien von Januar bis Mai rund 71.000 ihrer Versicherten betroffen, die Barmer spricht von ungefähr 80.000 Patienten im ersten Quartal. Bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen ist nur ein Teil der Versicherten der AOKs Nordost und Rheinland/Hamburg betroffen - die anderen AOKs bezogen Valsartan von Händlern, die nicht bei Zhejiang Huahai Pharmaceutical einkauften.

Nach dem aktuellen Erkenntnisstand der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA bestand das Problem bei der Valsartan-Herstellung womöglich schon seit 2012, als es eine Umstellung im Produktionsprozess gab. Für andere von ihm produzierte Wirkstoffe habe der chinesische Hersteller Untersuchungen der Herstellungsprozesse vorgenommen und hierbei keine NDMA-Verunreinigungen festgestellt, da sich deren Produktionswege deutlich unterschieden, erklärt eine EMA-Sprecherin auf Nachfrage.

Derzeit wird auch geprüft, ob Arzneimittel anderer Hersteller gleichfalls verunreinigt sein könnten. «Als Vorsichtsmaßnahme untersucht die EMA im Zuge ihrer Überprüfungen auch, ob die Herstellungsprozesse für ähnliche Produkte auch diese Verunreinigungen hervorrufen können», sagt eine Sprecherin. Am Donnerstag rief der deutsche Pharmahersteller Hormosan seinen Blutdrucksenker Irbesartan vorsichtshalber teilweise aus den Apotheken zurück, da er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen könne, dass einzelnen Chargen produktionsbedingt mit NDMA verunreinigt seien. Auch hier sei von keinem akuten Patientenrisiko auszugehen.

Aus Sicht vieler Experten ist es unverständlich, dass Verunreinigungen mit einem potenziell krebserregenden Stoff in einem Arzneimittel so lange unentdeckt bleiben. «Kritisch bewerten wir die Tatsache, dass über einen anscheinend mehrjährigen Zeitraum sowohl die Hersteller, die dem Arzneimittelgesetz unterstehen, als auch die zuständigen Kontrollbehörden keine Kenntnis über die Verunreinigung hatten», schreibt etwa ein Sprecher des Verbands der Ersatzkassen in Sachen Valsartan. Hier sei augenscheinlich nicht ausreichend kontrolliert und der Verbraucherschutz vernachlässigt worden. Gleichzeitig werde voraussichtlich die Solidargemeinschaft für den wirtschaftlichen Schaden aufkommen müssen. «Grundsätzlich sollte hier das Verursacherprinzip gelten», sagt der Kassensprecher. Er fordert Gesetzesreformen. «Es kann nicht sein, dass Versicherte für die unzureichende Qualitätsprüfung der verursachenden Hersteller aufkommen.»

Der AOK-Bundesverband verlangt «strengste Auflagen» auch für Firmen im Ausland: Die Politik müsse mit den global agierenden Herstellern aushandeln, wie dies umgesetzt werden kann. «Natürlich haben deutsche Qualitätsstandards zu gelten», sagt der Pressesprecher. Auch die AOK Rheinland/Hamburg sieht auf Nachfrage einen «klaren Handlungsbedarf»: Die Zeitdauer, die Anzahl der Betroffenen und weitere Arzneimittelskandale wie Unterdosierungen von Krebsmitteln in Bottrop verdeutlichten dies, erklärt ein Sprecher. «Patientinnen und Patienten müssen sich auf die Qualität von Arzneimitteln und ihre Qualitätsprüfung verlassen können», sagt er. Ein Barmer-Sprecher betont gleichfalls, dass die «bereits heute existierenden Prüfregularien» überprüft werden müssten.

Der Fall werfe ein schlechtes Licht auf den Import von Arzneimitteln, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Offenbar hätten die Kontrollmechanismen versagt, so dass verunreinigte Arzneimittel bis nach Deutschland zum Patienten kamen. «Es ist vollkommen inakzeptabel für unsere Verbraucher, dass Arzneimittel hier auf den Markt kommen, die möglicherweise krebserregende Substanzen enthalten», sagt er. Daher sollte sich die EU-Kommission nach gründlichen Untersuchungen überlegen, ob die Arzneimittelproduktion nicht wieder verstärkt nach Europa verlagert werden sollte. Unter Patienten hätten die Verunreinigungen für viel Beunruhigung gesorgt. «Hierzu haben uns sehr viele Anfragen erreicht wie zu keinem Thema zuvor», sagt Ludwig.

Um derartige Verunreinigungen vorab zu erkennen fordert der Pharmazeut Sörgel, dass die bestehenden modernen Analysemethoden zukünftig voll ausschöpft werden. Der aktuelle Fall zeige, welche Probleme auftauchen können, wenn Pharmahersteller immer nur nach «noch billigeren Herstellungsmethoden» suchen und das Offensichtliche dabei übersehen, sagt er. Seiner Ansicht nach sollten nun Untersuchungen gestartet werden, welche gesundheitlichen Auswirkungen die vielen Patienten womöglich über Monate oder Jahre zugeführten NDMA-Dosen haben. «Ein solches Unglück muss dazu führen, dass erforscht wird, wie ist es dazu gekommen ist und welche Folgen es hat», sagt Sörgel. Er habe bereits mit einer Ethikkommission gesprochen, um demnächst Untersuchungen bei einigen Patienten durchzuführen.

«Sollte es Lücken in den Kontrollen von Wirkstoffen geben - und dem scheint so - müssen diese gefunden und schnellstens geschlossen werden», erklärte die Grünen-Arzneimittelexpertin Kordula Schulz-Asche. «Da sehe ich auch das Gesundheitsministerium und Herrn Minister Spahn in der Pflicht, diese Aufklärung schonungslos zu betreiben und die Öffentlichkeit umfassend zu informieren.» Eine Sprecherin Spahns verwies auf Nachfrage auf das laufende Untersuchungsverfahren der Europäischen Arzneimittelbehörde wie auch die aktuellen Informationen des BfArM.

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